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Friday Dec 16, 2022
066 — Selbstverbesserung — ein Gespräch mit Prof. Anna Schaffner
Friday Dec 16, 2022
Friday Dec 16, 2022
Das Thema Selbst-Verbesserung mag auf den ersten Blick wie eines wirken, das keinen großen gesellschaftlichen Bezug hat. Selbst-Vebesserung beziehungsweise Selbst-Optimierung hat teilweise auch einen schlechten Ruf, wenn man an die Bücherregale gefüllt mit fragwürdigen Ratgebern denkt, die so in den meisten Buchhandlungen zu finden sind, ganz zu schweigen von Coaching-Podcasts und YouTube-Videos.
Das Thema hat mich dann aber doch für eine Episode sehr angesprochen, nachdem ich das hervorragende Buch von Prof. Anna Schaffner gelesen. Anna Katharina Schaffner ist Professorin an der Univ. Kent und Executive und Personal Coach. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, unter anderem Exhaustion: A History und The Art of Self-Improvement: Ten Timeless Truths und hat neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch Artikel für Guardian, Psychology today und times Literary Supplement verfasst.
In diesem Gespräch beziehe wir uns im wesentlichen auf ihr letztes Buch zum Thema Selbst-Verbesserung. Prof. Schaffner arbeitet nicht nur den historischen Kontext der »Selbst-Verbesserungs-Ideen« auf, die Rolle, die sie für uns als Individuen hat, sie stellt diese auch in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext und öffnet damit auch den wichtigen Diskurs, wie wir uns als Gesellschaft auf die Zukunft vorbereiten können. Eine solche Vorbereitung hat eine persönliche, aber eben auch eine soziale Komponente.
Dabei verwendet sie den Begriff Self-Improvement, im Deutschen: »Selbstverbesserung« und nicht Selbst-Optimierung, wie sie im Podcast erklärt.
»Esse est percipi«, George Berkely
Zunächst stelle ich die Frage nach der Freiheit, die ja eine Grundlage für Selbstverbesserung zu sein scheint. Woher kommt unser Begriff der Freiheit? Hat Freiheit ein rein positives Moment oder ist sie gar eine Belastung (für viele Menschen)? Erkennen wir Selbstverwirklichung als Möglichkeit oder gar als Zwang? Alain Ehrenberg spricht von der
»Müdigkeit des Selbst, das sich permanent selbstverwirklichen muss«
Erleben wir also Freiheit zwischen Selbstverwirklichung und Selbstversagen? Außerdem: wie frei sind wir wirklich? Sind wir eine »Blank Slate«, eine leere Tafel, die nur beschrieben werden muss und beliebig beschrieben werden kann, oder ist alles determiniert, also vorherbestimmt? Welche rolle spielen einschränkende Strukturen der Gesellschaft?
Sehen wir im Extremen vielleicht sogar »Victim-blaming«, also ein Herunterblicken auf Opfer der Freiheit, auf Menschen, denen es nicht gelungen ist, sich selbst zu verwirklichen, ihre Freiheit »zu nutzen«? Die Wurzeln dieses Problems scheinen aber älter zu sein, wie wir am Beispiel des Calvinismus diskutieren:
»Calvinismus — weltlicher Erfolg als Zeichen, dass man zu den Auserwählten gehört.«
Pervertiert eine implizite Forderung zur Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung gar die Freiheit, die wir gerade erst gewonnen haben?
»Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein. Episode heißt Zwischenstück. Das Gefühl der Freiheit stellt sich im Übergang von einer Lebensform zur anderen ein, bis sich diese selbst als Zwangsform erweist. […] «
»Wir leben in einer besonderen historische Phase, in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann hat dagegen keine.«, Byung-Chul Han
Prof. Schaffner zitiert in diesem Zusammenhang Franz Kafka:
»Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst um Herr zu werden und weiß nicht, dass das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn«
Welche (externen) Wertesysteme haben wir also unbewusst internalisiert? Sind diese gesund für uns? Wie können wir und selbst verbessern ohne uns gleichzeitig unserer Freiheit zu berauben, zumal in unserer Gesellschaft Bedeutung, Status und Identität oftmals mit einer eher oberflächlichen Ideen des Erfolgs verwoben sind?
Was ist von der Ratgeber-, der Self-Help-Industrie zu halten? Was ist der Unterschied zwischem »Mac Self-Help« und philosophisch fundierteren Ideen? Hat die zeitgenössische Philosophie hier eine wesentliche Wurzel — die Beschäftigung mit dem »guten Leben« vergessen?
»Der Mensch wird am Du zum Ich«, Martin Buber
Dann tauchen wir noch einmal tiefer in die Vergangenheit und Grundlagen ein und stellen die Frage nach dem Selbst. Was ist eigentlich »das Selbst«? Und was zählt als Verbesserung? Wie sind diese Ideen historisch einzuordnen? Prof. Schaffner erklärt dabei drei verschiedene Entwürfe des Selbst:
- relationales Selbst
- kein Selbst (in der buddhistischen Interpretation)
- atomares, individualistisches Selbst und homo oeconomicus
Sollten wir im Westen eine Rückkehr von starken individualistischen Ideen hin zu einem relationaleren Selbst suchen, gar »planetare Wesen« werden? Warum ist diese Frage für die Herausforderungen der Zukunft von großer Bedeutung?
Wie spielt das Dilemma zwischen Bildung und Ausbildung — im Sinne des Humboldtsches Ideals hier hinein? Und welche Rolle spielt das Systemdenken, beziehungsweise der Generalismus? Pointiert formuliert: erleben wir gerade in der Krise ein Abwendung vom »Fachidiotentum«?
Was ist die Rolle von Kultur und Ritualen, Zeremonien? Altmodisch und irrelevant, oder wesentliche Anker auch für moderne und zukünftige Gesellschaften?
Was ist vom heute sehr modischen Begriff der Authentizität zu halten?
»Authentisch ist der Mensch offensichtlich nur dann, wenn er sein Inneres, seine vermeintlich unverfälschte Natur, ungefiltert nach außen stülpt. Und das bedeutet letztlich: Authentizität ist das Gegenteil von Kultur. […] Anthropologisch ist das zwar Irrsinn, denn der Mensch ist bereits seiner Natur nach ein Kulturwesen, doch lässt dies der Authentizitätsdiskurs weitgehend außer Acht, der voraussetzt, dass sich unser unverfälschtes Ich in uns selbst findet und sich nicht in unserem Zusammenspiel mit Kultur und Gesellschaft entwickelt.«, Thomas Bauer
Wie spielt der heutige Begriff der Authentizität mit der Romantik als Geburt des Individualismus zusammen? Wo ist die Grenze zwischen Authentizität und performativem »Oversharing«, oder gar bis zum »vulnerability porn«?
Was bedeuten die Überlegungen zu Selbstverbesserung und Coaching für die heutige Arbeitswelt? Nur was messbar — quantifizierbar ist — ist etwas wert?
Und zuletzt, was bedeuten diese Überlegungen nun für die Zukunft der Gesellschaft und nicht nur des individuums? Verbreiten sich Tugenden (nach Konfuzius) wie gutartige Viren? Ist intellektuelle Bescheidenheit — vielleicht gar Weisheit — noch eine zeitgemäße Tugend?
»Wir dürfen nie vorgeben zu wissen, und dürfen nie große Worte gebrauchen«, Karl Popper
Der Mensch ist, nach Arnold Gehlen ein Mängelwesen, und Rupert Riedl macht schon in den 1970er Jahren deutlich:
»Der menschliche Verstand ist nicht dazu geschaffen, komplexe Systeme zu verstehen«
Aber wie weit geht; soll die Verbesserung die technische Erweiterung des Menschen gehen? Ist sie nicht notwendig um mit der wachsenden Komplexität unserer techno-sozialen Systeme umgehen zu können? Wo ist die Grenze? Sind die Ideen des Transhumanismus nicht letztlich die logische Konsequenz (und das natürliche Ende) der Selbst-Verbesserung? Gibt es eine (vernünftige) Grenze der technischen Verbesserung menschlicher (kognitiver) Fähigkeiten?
»The faith in Utopia, which killed so many in the centuries following the French Revolution, is dead.«, John Gray
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 17: Kooperation
- Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 47: Große Worte
- Episode 49: Wo denke ich? Reflexionen über den »undichten« Geist
- Episode 50: Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr
Anna Schaffner
- Executive and Personal Coaching | Exhaustion and Burnout Coaching
- Exhaustion: A History, Columbia University Press (2017)
- The Art of Self-Improvement: Ten Timeless Truths, Yale University Press (2021)
- The Truth about Julia, Atlantic Books (2016)
- Artikel in Psychology Today
Fachliche Referenzen
- George Berkeley
- Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Campus (2015)
- Byung-Chul Han, Psychopolitik, Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S. Fischer (2014)
- Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Reclam (2018)
- Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt (1987)
- Arnold Gehlen, Der Mensch, Klostermann Vittorio (2016)
- Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1982)
- John Gray, Black Mass, Penguin (2008)
Sunday Oct 16, 2022
063 – Museum der Zukünfte — ein Gespräch mit Dr. Gabriele Zipf
Sunday Oct 16, 2022
Sunday Oct 16, 2022
In Berlin gibt es ein Museum, ein Haus der Zukunft, das Futurium. Ich halte es für eine hervorragende Idee einen Raum zu schaffen, in dem über die Zukunft (beziehungsweise Zukünfte) diskutiert wird, vor allem auch darum, weil sich dieses Museum auch stark an Kinder, beziehungsweise junge Menschen wendet.
Es hat mich folglich sehr gefreut, dass die Leiterin der Ausstellung, Frau Fr. Dr. Zipf sich zu einem Gespräch bereiterklärt und mich ins Futurium eingeladen hat.
Im Gespräch stelle ich die Frage, warum Zukunft im Plural, also Zukünfte verwendet wird: Ziel ist das Aufzeigen von Möglichkeiten. Aber wie weit ist Zukunft gestaltbar, von wem, welche Rolle spielt das Individuum? Wie kann der Versuch, Zukunft vorstellbar machen funktionieren?
Dr. Zipf ist Archäologin und da stellt sich naturgemäß die Frage: wie passt die Archäologie zur Beschäftigung mit der »Zukunft«? Gibt es eine Herangehensweise an »Zeit«? Kann man möglicherweise Prinzipien aus der Geschichte ableiten?
»Die Geschichte wiederholt sich nicht«
Und dennoch ist, wie sich im Gespräch zeigt, die Beschäftigung mit der Vergangenheit von Wert, wenn man in die Zukunft blicken möchte. So diskutieren wir die Notwendigkeit eines inter- und intradisziplinären, also eines multiperspektivischen Blicks. Was ist die Rolle von Generalisten versus Spezialistentum, der Philosophie?
Das Futurium selbst besteht aus vier verschiedene Ebenen:
- Ausstellung
- Lab
- Veranstaltungen
- Digitales Futurium
Kann ein Haus, beziehungsweise ein Projekt wie das Futurium eine vermittelnde, eine Generalisten-Rolle einnehmen? Wie versucht das Futurium die »futures literacy« zu verbessern — also pädagogische Ansätze zu entwickeln um auch junge Menschen eine kritische aber konstruktive Perspektive der Zukunft anschaulich zu machen?
Was ist von Zukunftsforschung zu halten (jenseits von Individuen die sich breit inszenieren, deren Vorhersagen aber selten zutreffen?)? Was sagen die Bilder, die wir uns von der Zukunft machen über uns aus?
Dann diskutieren wir die sehr prinzipelle Frage, was ist eigentlich eine gute Zukunft? Das führt uns das zur Frage des Fortschrittes:
»Wir verwechseln systematisch Fortschritt mit Innovation.«, Harald Welzer
Apropos Innovation: Erleben wir wirklich eine solche Beschleunigung, wie das gängige Narrativ suggeriert, oder eher eine Stagnation? Was wir heute als Zukunft diskutieren, haben wir schon vor 30 Jahren diskutiert — vielleicht sogar noch früher.
»Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.«, Johann Nestroy
Helfen Dystopien, die Menschen zu bewegen, oder ist das zwar ein narrativ einfacher, aber letzlich wenig hilfeicher Pfad? Wie kommen wir von den Dystopien und einfachen Klischees/Stereotypen hin zu einer konstruktiven und sinnvollen Diskussion der Zukunft?
Wie können wir mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft umgehen: wieweit hilft Innovation? Wie kommen wir zu einer gemeinsamen Sicht auf Fortschritt? Wollen wir radikalen Wandel (siehe etwa die Vorstellungen Le Corbusiers, wie Paris umzugestalten wäre), Transformation, evolutionäre Veränderung?
Gibt es Kipp-Punkte in der Technik und Gesellschaft, die dazu führen können, dass eine an sich bekannte Technik (endlich) den Durchbruch schafft (siehe auch das Beispiel der Elektro LKWs in London 1917)?
Die Geschichte lehrt und jedenfalls eines: dass das, was aktuelle Generationen für richtig halten, nicht immer den Test der Zeit besteht. Was können und sollen wir tun um einerseit in unserer Zeit zu handeln, andererseits aber Handlungsspielraum für zukünftige Generationen zu erhalten?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 15: Innovation oder Fortschritt?
- Episode 17: Kooperation
- Episode 23: Frozen Accidents
- Episode 28: Jochen Hörisch — Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
- Episode 45: Mit Reboot oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 50: Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr
- Episode 59, 60: Wissenschaft und Umwelt
Futurium
Fachliche Referenzen
- Toronto wants to kill the smart city forever, MIT Technology Review (2022)
- Frank Schirrmacher, Neil Armstrongs Epoche: Das Drama einer Enttäuschung, FAZ Feuilleton (2012)
- Lorries being refuelled at St Pancras goods depot, London, 11 July 1917
- Frozen Accidents: Stewart Brand, How Buildings Learn, Penguin Books (1995)
- Why Architect Le Corbusier Wanted To Demolish Downtown Paris, Business Insider (2013)
- David Graeber, Bürokratie, Die Utopie der Regeln, Goldmann (2017)
- Attila Hörbiger, Johann Nestroy, Lumpazivagabundus
Tuesday Sep 20, 2022
062 — Wirtschaft und Umwelt, ein Gespräch mit Prof. Hans-Werner Sinn
Tuesday Sep 20, 2022
Tuesday Sep 20, 2022
Ich habe mich in früheren Episoden öfter mit Umweltfragen beschäftigt, im besonderen auch in Episode 59 und 60. Bisher ist aber die Rolle der Wirtschaft beziehungsweise der Wirtschaftswissenschaften zu kurz gekommen. Daher freut es mich ganz besonders, mit einem der führenden deutschen Ökonomen ein Gespräch führen zu können:
Prof. Hans-Werner Sinn ist Jahrgang 1948, studierte Volkswirtschaftslehre in Münster. Von 1984 bis 2016 war er Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Hinzu kamen Gastprofessuren und Forschungsarbeiten an der University of Western Ontario in Kanada, der London School of Economics sowie an den Universitäten Bergen, Stanford, Princeton und Jerusalem. Von 1999 bis 2016 war Hans-Werner Sinn Präsident des ifo Instituts, stand als Direktor dem Center for Economic Studies (CES) der LMU vor und war Geschäftsführer der CESifo GmbH, eine gemeinsame Initiative der LMU und des ifo Instituts.
Prof. Sinn kritisiert bereits seit vielen Jahren aus, wie ich meine, gutem Grund die deutsche Energiewende. In meinem Archiv habe ich einen Artikel aus dem Manager-Magazin aus dem Jahr 2014 gefunden, der bereits wesentlichen Probleme, die wir heute auch aufgreifen werden, beschreibt und der sich auch über die Jahre als zutreffend herausgestellt hat. Deutschland wäre meiner Einschätzung nach großer Schaden erspart geblieben, wenn man diese Kritik ernst genommen hätte.
Vor wenigen Monaten bin ich dann wieder auf einen Vortrag von Prof. Sinn gestossen, und zwar zum Klimasymposion — Konstanz Mai 2022 — mit dem Titel »Die Globale Energiewende: Sechs große Probleme«.
Dieser Vortrag hat mich sehr beeindruckt und ich werde auf wesentliche Themen, die Prof. Sinn in diesem Vortrag beschreibt im folgenden Gespräch bezugnehmen. Ich empfehle daher diesen Vortrag vorweg zu hören. Die sechs Probleme die in diesem Vortrag genannt werden sind:
- In Paris akzeptiert nur eine Minderheit von 61 der 191 Unterzeichner eine verbindliche quantitative Emissionsbeschränkung
- EU hat sich utopische Ziele gestellt. Deutschland will sogar gleichzeitig aus Kernkraft und Kohle aussteigen und hat sich dadurch von anderen Ländern abhängig gemacht
- Wind- und Sonnenstrom sind viel zu volatil um eine preisgünstige Vollversorgung zu gewährleisten
- Europa drangsaliert Autoindustrie und verstößt gegen Gesetzt des »einen Preis«. Der Markt als Entdeckungsverfahren für CO2-arme Technologie wird ausgeschaltet
- Beim deutschen Energiemix sind die E-Autos nicht CO2-günstiger als Dieselautos
- Bei handelbaren Brennstoffen ist der Effekt des europäischen Verzichts nicht nur klein sondern null
Wir sprechen in dieser Episode daher im besonderen über die deutsche Energiewende, aber auch generell über die Rolle der Ökonomie, beziehungsweise Wirtschaftswissenschaften, wenn es um die Bewältigung der ökologischen Probleme der Zeit und der Zukunft geht.
Eine für mich dabei wichtige Metafrage ist folgende: Keiner der sechs Probleme, die Prof. Sinn in seinem Vortrag darlegt scheinen besonders schwierig zu verstehen zu sein; im besonderen nicht die ersten drei, die schon ausreichen, um etwa die deutsche »Energiewende« in Frage zu stellen. Wie kann es sein, dass eine moderne und gebildete Gesellschaft, deren politische Vertreter und Medien diese fundamentalen Kritikpunkte kaum oder nur auf sehr niedrigem Niveau diskutiert?
»Utopien sind für Träume schön, aber für eine reale Politik macht das keinen Sinn«
Wie kommen wir von Wunschvorstellungen zu realem Fortschritt, der unsere Gesellschaft nicht im Kern gefährdet? Welche Rolle spielen »Externalitäten« in der Wirtschaft?
»Bei der Erderwärmung haben wir einen erheblichen Misstand, und dieser muss bekämpft werden«
Technik und Moral alleine werden dafür nicht ausreichen. Wie können die Menschen (global) dazu bewegt werden das Richtige zu tun? Die aktuellen Maßnahmen sind nicht nur wenig dazu geeignet das Problem anzugehen, sie sind in weiten Bereichen kontraproduktiv.
»Die Windräder sind keine zweckdinglichen Bauten für den Naturschutz, sondern es sind Sakralbauten. […] jeder Windflügel der errichtet wird ist sichtbar für jeden ein Nachweis dafür, wie dominant diese neue Religion ist.«
Was sind dann aber sinnvolle Maßnahmen? Kann Emissionshandel hier ein wesentlicher Puzzlestein sein? Wie geht man damit um, dass jeder Ansatz letztlich eine globale Perspektive hat? Wie soll die politische Seite einer tatsächlich funktionierenden Energiewende organisiert werden? Staatlich getrieben (mit welchen Maßnahmen?), libertär oder auf freiem Markt aufgebaut?
Was ist die Rolle der Wissenschaft? Beobachten wir bei wesentlichen Zukunftsthemen gerade eine zunehmende Verschränkung schlechter Forschung gepaart mit Aktivismus? Beschädigen Publikationszwang und Finanzierung aus der Wirtschaft den Wissenschaftsbetrieb?
Was ist die Rolle de Ökonomie? Erleben wir nicht seit Jahrzehnten eine Selbstüberschätzung der Wirtschaftswissenschaft, oder jedenfalls lautstarker Ökonomen in der Öffentlichkeit — denken wir an Prognostik und an die Idee steten Wirtschaftswachstums?
Prof. Sinn beschreibt die neoklassische Theorie als Suche nach Externalitäten und Markt-Fehlern. Welche sind dies?
Welche Rolle spielte die Studie des Club of Rome 1972 und das Symposium on the Economics of Exhaustible Resources 1974. Was bedeutet Wachstum für ökonomische Theorien und Modelle? Gibt es die oft zitierte Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Verbrauch an Ressourcen?
Welche Rolle spielt die Populationsgröße, ein politisch und ethisch sehr schwieriges Thema?
Zum Abschluss frage ich Prof. Sinn, was er einem jungen Menschen raten würde, der einen positiven Beitrag für die (Um)welt leisten möchte.
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 59 und 60: Wissenschaft und Umwelt
- Episode 46 über Aktivismus mit Zion Lights
- Episode 45: Mit Reboot oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, mit Herbert Saurugg
- Episode 36: Energiewende und Kernkraft, ein Gespräch mit Anna Veronika Wendland
Hans-Werner Sinn
- Homepage von Prof. Hans-Werner Sinn
- Prof. Hans-Werner Sinn am ifo
- Hans-Werner Sinn, Klimasymposion — Konstanz Mai 2022 — mit dem Titel »Die Globale Energiewende: Sechs große Probleme«
- ifo-Chef Sinn zur Energiewende: »Die einzige Hoffnung der Menschheit war die Atomkraft«, Manager Magazin (2014)
- Buch: Hans-Werner Sinn, Das grüne Paradoxon, Weltbuch Verlag (2020)
- Suzanne Thoma, Daniel Jositsch und Hans-Werner Sinn diskutieren mit Martin Meyer über die Zukunft der Energie. Neue Zürcher Zeitung (9.2.2022)
- Hans-Werner Sinn, Die Dinos
- Hans-Werner Sinn, Ist das E-Auto ein Rückschritt? Wirtschaftswoche (2019)
weitere fachliche Referenzen
- Pigou, Arthur Cecil. 1920. The Economics of Welfare. 4th ed. London: Macmillan
- Donella Meadows, Jorgen Randers, Dennis Meadows, Grenzen des Wachstums - Das 30-Jahre-Update: Signal zum Kurswechsel, Hirzel (2020)
- Symposium on the Economics of Exhaustible Resources (1974)
- Tim Morgan, Life after Growth, Harriman House (2016)
Sunday Aug 28, 2022
061 — Digitaler Humanismus, ein Gespräch mit Erich Prem
Sunday Aug 28, 2022
Sunday Aug 28, 2022
Meinen heutigen Gast habe ich ebenfalls schon länger auf meiner Wunschliste und es hat mich gefreut, dass er auch sofort zugesagt hat! Erich Prem ist nicht nur Vertreter des "digitalen Humanismus" (DH) — das Thema der heutigen Episode — sondern ein breit gebildeter, interdisziplinärer Denker, wie in dieser Episode deutlich werden wird.
Er ist in seiner Erstausbildung Computerwissenschafter, der sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Er hat am ÖFAI in Wien am sogenannten Symbol Grounding Problem gearbeitet und am MIT in den USA an verhaltensbasierter Robotik. Er leitet seit über zwei Jahrzehnte ein strategisches Technologieberatungsunternehmen, Eutema, in Wien, das neben der EU Kommission auch Ministerien und Universitäten berät.
Er beschäftigt sich als Philosoph — seiner Zweitausbildung — mit komplizierten Fragen an der Schnittstelle von Ethik, Digitalisierung und Technologiepolitik.
Neben vielen anderen Publikationen ist er Mitherausgeber des jüngst erschienen Buches »Perspectives of digital humanism«. Er unterrichtet Digitalen Humanismus an der TU-Wien und Datenethik an der Universität Wien.
In dieser Episode beginnen wir mit der Frage, wie unsere tägliche interaktion mit digitalen Geräten tatsächlich aussieht und wie wir uns das eigentlich wünschen würden. Wie verändert sich die Arbeitswelt? Wie gehen junge Menschen mit digitalen sozialen Räumen um?
Welche Rolle spielen digitale Technologien im geopolitischen und ökonomischen Sinne auch für Europa? Denken wir an Überwachung, langfristige Absicherung wesentlicher Technolgien.
Dann setzen wir uns mit dem relativ neuen Begriff des »digitalen Humanismus« etwas konkrete auseinander: Was ist Humanismus? Was ist die Rolle des Menschen, vom Menschenbild des alten Griechenlands über klassische Bildungsideale zur heutigen Zeit. Spielt Humanismus heute überhaupt noch eine Rolle und sollte er eine Rolle spielen?
Was ist nun der DH und warum braucht es diesen neuen Begriff? Die Kritik von Adorno und Horkheimer am Humanismus wird im DH aufgenommen und Freiheit, Menschenrechte — liberale, westliche Werte verankert, bei einigen Vertretern ist auch eine starke Kapitalismuskritik zu finden, sowie Hinweis zum Überwachungskapitalismus.
Allerdings betont Erich, dass das Individuum nicht alleine im Zentrum stehen darf, sondern sich immer in Reflexion mit der Gesellschaft befindet. Denn digitale Technologien sind auch Machtinstrument und bedürfen politischer und gesellschaftspolitischer Debatte um die Frage zu beantworten: wer formt »das Digitale« eigentlich, wem nutzt es?
Dann diskutieren wir die unterschiedliche Wahrnehmung digitaler Technologien zwischen Kulturen und Nationen, etwa am Beispiel des Techniums von Kevin Kelly, europäischer Philosophie und der Globalisierung, sowie der Frage, woher eigentlich das Design von Technik stammt: top down, bottom up oder gar ungesteuert?
Eine Besonderheit des DH, auch als Abgrenzung anderer wissenschaftlicher Strömungen wie etwa der Technikfolgenabschätzung ist, dass DH von Informatikern geprägt ist, mit dem Anspruch, die Folgen der eigenen Technologie besser zu bestimmen. Dies geschieht nicht Technologie-feindlich, sondern in der Erkenntnis, dass wir uns in Frühzeit der Digitalisierung befinden, die in vielen Bereichen schlicht noch nicht gut genug ist, beziehungsweise falsche Wege eingeschlagen hat. Der DH nimmt also an, dass es kein Schicksal ist sondern nach gesellschaftlichen Vorstellungen Technik gestaltbar ist.
Ich stelle dann die Frage, ob wir nicht teilweise auf Medien-Hypes hereinfallen und die Bedrohungen möglicherweise gar nicht so groß sind. Als Stichworte könnte man nennen: Social Score in China, Google Flue Trends oder Covid AI, und unterscheiden sich die rechtlichen Prinzipien in der analogen Welt wirklich so stark von der digialten, wie manchmal behauptet wird?
Auch wenn es hier und da Übertreibungen gibt, so erkennen wir doch zahlreiche Folgen der Digitalisierung, die sich mit dem Bild, den digitale Humanisten haben, nicht zur Deckung bringen lässt. Darf eine Person etwa auf ihre beobachtbaren Effekte reduziert werden — vor allem von der Vergangenheit in die Zukunft mit vielleicht anderen Kontexten? Wie sieht es mit dem Filtern und der Moderation von Inhalten auf Plattformen aus? Oder, was ist schlimmer: gute oder schlechte »künstliche Intelligenz«?
Einen Kritikpunkt des DH spreche ich noch an, nämlich die Frage des Anthtropozentrismus? Fokussiert sich der DH zu stark auf den Menschen? Was ist mit Nachhaltigkeit und anderen systemischen Fragen?
Zuletzt grenzen wir noch den Digitalen Humanismus vom ähnlich klingenden Begriff der Digital Humanities ab und, was wesentlicher ist, stellen die Frage, was unter Digitaler Souveränität zu verstehen ist: ist Souveränität das gleiche wie Autarkie? Was haben wir in Europa in dieser Hinsicht in den letzten Jahren übersehen, wie sollten wir politisch reagieren?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 4 und Episode 5: »Was will Technologie«, wo ich genauer auf die Ideen von Kevin Kelly eingehe, die wir im Gespräch erwähnen
- Episode 28 mit Prof. Jochen Hörisch zur Idee und aktueller Situation der Universität
- Episode 24 mit Peter Purgathofer: Hangover: Was wir vom Internet erwartet und was wir bekommen haben
- Episode 30 mit Tim Prilove über Techno-Optimismus
Erich Prem
fachliche Referenzen
- Manifest zum digitalen Humanismus
- Hannes Werthner, Erich Prem, Edward A. Lee, Carlo Ghezzi, Perspectives on Digital Humanism, Springer (2022)
- Erich Prem, A brave new world of mediated online discourse, Communications of the ACM (Feb. 2022)
- Shoshanna Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, campus (2018)
- Kevin Kelly, What Technology Wants, Penguin (2011)
- Edware Lee, The Coevolution, MIT Press (2020)
- Social Score China: Spectator Podcast, Chinese Whispers: Mythbusting the social credit system (2022)
- Why Google Flu is a Failure, Forbes (2014)
- What we can learn from the epic failure of Google Flu Trends, Wired (2015)
- Hundreds of AI tools have been built to catch covid. None of them helped. | MIT Technology Review (2021)
- Jonathan Haidt, Why the Past 10 Years of American Life Have Been Uniquely Stupid, The Atlantic (2022)
- Coleman Hughes on The Death Of Conversation with Jonathan Haidt (2022)
- Cathy O'Neill, Weapons of Math Destruction, Crown (2016)
- David Edgerton, The Shock of the Old (2019)
Thursday Jun 16, 2022
058 — Verwaltung und staatliche Strukturen — ein Gespräch mit Veronika Lévesque
Thursday Jun 16, 2022
Thursday Jun 16, 2022
Ich hatte seit längerer Zeit in Thema im Hinterkopf, das für die Zukunft unserer modernen Gesellschaften von großer Bedeutung ist, und dennoch häufig unter dem Radar läuft, beziehungsweise in den letzten Jahren seit dem immer stärkeren durch systemisches Versagen in vielen Ländern unter Beschuss geraten ist. So weit, dass manche von einer fundamentalen Ablöse träumen — sei es in Blockchain-Träumen oder mondäneren Varianten davon:
Dieses Thema ist, »Verwaltung und staatlichen Strukturen«, denn beide bilden meiner Ansicht nach das Rückgrat jeder modernen Gesellschaft und es freut mich daher besonders mit Veronika Lévesque, eine äußerst kompetente Ansprechpartnerin zu diesem Themenfeld gefunden zu haben.
Veronika Lévesque ist Organisationsbegleiterin und Projektmensch am Institut für Arbeitsforschung und Organistionberatung IAFOB. Beschäftigt sich vorzugsweise mit Fragen, für die es noch keine fertige Antwort gibt. Das macht sie natürlich zu einer perfekten Ansprechpartnerin für diesen Podcast.
Ebenso, dass Frau Lévesque begeisterte Grenzgängerin ist: sie ist in vier Ländern, drei Sprachen und am liebsten in den Zwischenräumen zwischen Disziplinen unterwegs, mit den Schwerpunkten: Transformation, Organisations- und Entwicklungshandwerk, agile Spielfelder in nicht-agilen Umgebungen und Methodenentwicklung. Der Umgang mit Nicht-Planbarem ist dabei immer ein wesentliches Motiv.
»Ein ambitionierter Fehler ist oft hilfreicher als eine mutlose Wahrheit.«
Sie hat ihre Karriere im weiteren Sinne in der Erwachsenenausbildung begonnen, in Schulen weitergeführt und nutzt ihre Erfahrung in der Organisationsentwicklung um in der Verwaltung in der Schweiz für 15 Jahre zu arbeiten.
Wir werden daher eine Einsicht in die Situation der Schweiz bekommen, was mich freut, weil wir von der Schweiz im restlichen deutschsprachigen Raum ohnedies zu wenig erfahren, die Schweiz aber offensichtlich in einigen Bereichen sehr erfolgreich agiert; wir diskutieren aber auch über Deutschland und Österreich, sowie die globale Situation.
Wir beginnen mit der Frage, ob meine Ansicht, dass die Verwaltung das Rückgrat einer modernen Gesellschaft sei zutrifft? Wie spielen Exekutive, Legislative, Judikative und Verwaltung zusammen und — ist die Verwaltung damit die vierte Gewalt im Staate?
»Die Verwaltung schützt das gesetzte Recht und gleichzeitig hilft sie dabei es zu ändern.«
Ist die Verwaltung auch für Fragen »der Zukunft« verantwortlich, also Themen, die sich kurzfristigen ökonomischen Betrachtungen entziehen?
Mit dem Ansatz des New Public Management wurde der Anspruch gestellt, dass auch Verwaltungen effizient sein müssen, was zu einer deutlichen Verkleinerung in den letzten Jahrzehnten geführt hat. D.h. Aufgaben, die besser am freien Markt zu erledigen sind, wurde ausgelagert. Was ist das aktuelle Fazit dieser Veränderungen?
Auch stellt sich wieder das im Podcast häufiger genannte Dilemma zwischen Effizienz und Resilienz, das heißt der Fähigkeit sich auf eine unbekannte Zukunft mit neuen Herausforderungen und Risiken einzustellen.
»Most modern efficiencies are deferred punishment«, Nassim Taleb
Wie spielen politische Ideoligien (von sozialdemokratisch bis libertär) zusammen mit Verwaltung und: was zählen wir eigentlich zur Verwaltung? Eine weitere wichtige Rolle spielen staatsnahe Unternehmungen, die aber nicht im engeren Sinne zur Verwaltung zu zählen sind.
Wird die Verwaltung immer nur dann genannt, wenn etwas nicht funktioniert, oder anders ausgedrückt: leidet die Verwaltung darunter, dass sie im Kern unsichtbar wird, wenn sie (zu) gut funktioniert?
Wie geht die Verwaltung mit der zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Anforderung nach Transparenz um und ist Transparenz überhaupt ein Wert an sich? Wem verantwortet sich die Verwaltung gegenüber?
»Demokratie ist eine träge Maschinerie, konzipiert um Entscheidungen zu verlangsamen«, Herfried Münkler, zitiert in Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht
Wie sieht es mit Zeitlichkeit aus, nach Herfried Münkler — ist Verwaltung vielleicht auch ein notwendiges und sinnvolles dämpfendes Element einer modernen Gesellschaft? Standardisierung, Stabilität, Nachvollziehbarkeit waren der Erfolgsmuster der Vergangenheit — das bereitet uns zunehmend Schwierigkeiten. Aber nicht nur die Verwaltung hat Probleme sich der Geschwindigkeit der Zeit anzupassen, auch die Gesetzgebung kommt selten hinterher, sie wird von den Themen getrieben und setzt sie selten.
»Die Verwaltung als Bastion gegen Willkür«
Wird, wie so häufig, das gemessen, was sich leicht messe lässt: also der Kosten, und nicht der Nutzen — zum Schaden der Gesellschaft?
Was macht die »Digitalisierung« mit der Verwaltung, beziehungsweise die Verwaltung mit der Digitalisierung?
Dann unterhalten wir uns über den Unterschied zwischen Politik und Verwaltung, die sehr gegensätzlich sind: erstere laut, schnell und flach, die letztere still, konzentriert und tief?
Haben wir Angst, gesetzlich die Idee (und nicht jedes Detail) klarzustellen und Verwaltung beziehungsweise Exekutive mehr Freiheit in der Umsetzung zu lassen und versuchen wir stattdessen (erfolglos) alles bis ins Letzte zu regeln und zu bestimmen und scheitern dabei naturgemäß an der Komplexität und Geschwindigkeit der Welt? Haben wir also, anders gesagt, Angst selbstständig zu denken? Wollen wir jeden kleinsten Schritt vorbestimmt haben, wissend, dass dies zum Scheitern verurteilt ist?
»When I look at people I have hope. When I look at institutions I am hopeless«, Donella Meadows via Vicki Robin
Was sind die Krisen der letzten Jahre und Jahrzehnte zu beurteilen und welche Rolle spielen dabei Verwaltung und staatliche Strukturen (Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Versagen im Covid-Management usw.):
„Der Bund hatte die im Pandemiefall notwendigen organisatorischen Strukturen und personellen Grundvoraussetzungen nicht sichergestellt.“ und
„die Herausforderungen des Krisenmanagements in der COVID-19-Pandemie [waren] bislang ungelöst. Die seit Ausbruch der Pandemie gemachten Erfahrungen wurden zu wenig genutzt, um das Krisenmanagement im Sinne von Lessons Learned weiterzuentwickeln“, Rechnungshofbericht Österreich, Juni 2022
Also, nicht nur wurden erhebliche Fehler gemacht, man hat aus diesen bisher auch nicht nennenswert gelernt — ein rein österreichisches Problem?
Wie bekommt man Kompetenz, Schlagkraft, Handlungsfähigkeit und Agilität in die Verwaltung, die gleichzeitig auch Stabilität und Langfristigkeit sichern soll? Und damit im Zusammenhang: ist das Beamtenwesen überhaupt noch ein Zukunftsmodell, oder sollte die Verwaltung nicht vielmehr den Rest der Gesellschaft widerspiegeln?
Und nicht zuletzt zeichnet Frau Lévesque auch ein optimistischeres Bild für die Kooperation zwischen den Generationen — vom Übergang einer linearen in eine digitale Lebenslogik mit Hilfe anderer Denkmodelle der »Gamergeneration«?
Referenzen
Veronika Lévesque
- Institut für Arbeitsforschung und Organisationsberatung
- Veronika Lévesque am IAFOB
- Veronika Lévesque, Wie innovierend, agierend und selbstaktiv getrieben kann und soll eine Verwaltung sein? (2017)
Andere Episoden
- Episode 17: Kooperation
- Episode 25: Entscheiden unter Unsicherheit
- Episode 26: Was kann Politik (noch) leisten? Ein Gespräch mit Christoph Chorherr
- Episode 30: (Techno-)Optimismus — ein Gespräch mit Tim Pritlove
- Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, ein Blick hinter die Kulissen: Gespräch mit Herbert Saurugg
- Episode 45: Mit »Reboot« oder Rebellion aus der Krise?
Fachliche Referenzen
Friday Apr 29, 2022
056 — Kunst und Zukunft
Friday Apr 29, 2022
Friday Apr 29, 2022
In der heutigen Episode möchte ich ein Thema aufgreifen, über das ich schon längere Zeit nachdenke, wo ich aber bisher noch keinen guten Zugang gefunden habe. Das Thema ist »Kunst und Zukunft«. Mit anderen Worten: Welche Rolle spielt Kunst und Kultur in Betrachtung und Gestaltung unserer Zukunft, aber auch umgekehrt: wie wirkt Zukunft auf Kunst.
Ich freue mich daher ganz besonders für diese erste Episode in diesem Themenenbereich Hanno Rauterberg gewonnen zu haben:
Hanno Rauterberg ist Kunsthistoriker und stellvertretender Ressortleiter des Feuilletons der Wochenzeitung Die Zeit sowie Autor zahlreicher hervorragender Sachbücher.
Das Buch, das diese Episode motiviert hat ist »Die Kunst der Zukunft.« Daneben hat er aber eine Reihe weiterer Bücher veröffentlicht, unter anderem »Wie frei ist die Kunst« oder »Die Kunst und das gute Leben«.
In dieser Episode sprechen wir über die Kunst in der Zukunft aber auch über die Rolle, die Kunst spielt mit der Zukunft umzugehen.
Ich beginne mit der nur schwer zu beantwortenden Frage: Was ist Kunst? ist eine Definition möglich? Hier stellt sich auch eine Machtfrage: wer bestimmt (über Kunst)? Welche Aufgabe, welche Funktion hat die Kunst?
Ist Kunst eine konservative / konservierende / tradierende Brücke in die Vergangenheit oder ein progressiver, kritischer Blick der Gegenwart sowie ein Seismograph der Zukunft? Ist die Kunst gar elitär, belehrend oder ein Luxusgut, welche Rolle spielt der moderne Kunstmarkt? Muss Kunst Erwartungen enttäuschen? Will Kunst eine heilende Funktion wahrnehmen?
Dann sprechen wir über die Rolle des Museums. Geht es um Auswahl, Selektion oder um Verhandlung, was Kunst ist? Welche Rolle spielen dabei die klassischen Kriterien wie Komposition, Originalität, Ikonographie, handwerkliche Aspekte, Innovation technischer Merkmale? Tritt Produktion und Ästhetik in den Hintergrund? Wird Kunst zur Deklaration, »Ready Made« à la Marcel Duchamp, zur reinen Pose? Wann ist ein Werk abgeschlossen, wie verhält es sich mit Performance und Immersion?
»Die Kamera der Gegenwart ist ein hochgezüchteter Computer, eine Manipulationsmaschine, die darauf ausgelegt ist, das Wirkliche dem Idealbild ihrer Programmierer anzugleichen — und die zugleich dazu auffordert, das Foto nicht als Endprodukt zu verstehen, sondern als Rohmaterial, das lustvoll bearbeitet und den inneren Bildern der Fotografen angeglichen werden will.«
Welche Rolle spielt(e) Technik für Schöpfung (Methoden der Produktion, Distribution verändern sich nachhaltig) aber auch für die Rezeption und Interaktion mit Kunst und Künstlern? Das Private und öffentliche Leben sind nicht mehr so klar voneinander getrennt wie in der Vergangenheit, was sind die Folgen?
»Das Private wird als etwas öffentliches gestaltet und das Öffentliche als etwas Privates«
Der Technikphilosoph Günter Anders wesentliche Trends, die wir heute beobachten bereits in den 1960er Jahren beschrieben:
»Wenn das Ferne zu nahe tritt, entfernt oder verwischt sich das Nahe.«
sowie
»Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muß das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden.«
Dann sprechen wir über die Rolle von Machine Learning sowie neuen Formen der Vermarktung, wie etwa NFTs. Sind Maschinen kreativ und schaffen sie Kunst? Ist Kreativität das nicht vorhersehbare, was sind dann die Bilder von Wombo?
»In dem Maße, in dem Maschinen kreativ erscheinen, als begabte, künstlerhafte Wesen erscheinen, kann man sie auch für zivilisiert halten. […] Die Technik rückt uns Menschen näher.«
Die Technik soll also über »Kunst« anders in der Welt verankert werden!
»Nur die Maschine weiß noch, wie wir aus der Krise herauskommen […] darum müssen wir uns ihr anvertrauen«
Damit kommen wir von der menschlichen zur maschinellen Avant Garde? Ist das der freie Weg zum Transhumanismus? Die Maschinen als bessere Menschen?
»So überwindet der Mensch alles, was ihm fremd und bedrohlich scheint, nur um mit sich selbst zu fremdeln und das eigene Tun als Bedrohung wahrzunehmen.«
Zuletzt stelle ich die Frage, welche Rolle die Kunst in der Bewältigung unserer Zukunft spielt? Wir sprechen über gemeinschaftsstiftende Funktion der Kunst. Aber auch die schwere Greifbarkent. Die Kunst ist unwirklich, aber wie wirkt sie dann auf die Wirklichkeit?
»Das Bedürfnis nach dem Eigentlichen nimmt in dem Maße zu indem wir uns im Uneigentlichen Bewegen«
Ambivalenz wird somit produktiv erfahrbar?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 29: Fakten oder Geschichten? Wie gestalten wir die Zukunft?
- Episode 43: Deep Fakes: Wer bist du, und – was passiert da eigentlich?
- Episode 53 und 54: Data Science und Machine Learning, Hype und Realität
fachliche Referenzen
- Hanno Rauterberg, Die Kunst der Zukunft (2021)
- Hanno Rauterberg, Wie frei ist die Kunst? (2018)
- Hanno Rauterberg, Die Kunst und das gute Leben: Über die Ethik der Ästhetik (2015)
- Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen Teil 1 und Teil 2
- Wombo Art
- Anicka Yi (Gladstone Gallery)
- Anicka Yi (Tate Gallery)
Tuesday Mar 15, 2022
054 — Data Science und Machine Learning, Hype und Realität — Teil 2
Tuesday Mar 15, 2022
Tuesday Mar 15, 2022
Dies ist der zweite Teil mit Dr. Lukas Lang zum Thema Data Science und Machine Learninig (auch »artificial intelligence« genannt). Ein Themenbereich, der sehr viel Potential für unsere Zukunft hat, aber wie alle diese Themenbereiche auch eine Menge an Gefahren, Herausforderungen und Hypes generiert.
Bitte hören Sie zunächst Teil 1 und beachten Sie dort auch die umfangreichen Shownotes, Links und Referenzen.
Monday Feb 21, 2022
053 — Data Science und Machine Learning, Hype und Realität — Teil 1
Monday Feb 21, 2022
Monday Feb 21, 2022
In dieser Episode ist wieder Dr. Lukas Lang zu Gast. Wir sprechen über Data Science und Machine Learninig (auch »artificial intelligence« genannt). Das ist ein Themenbereich, der sehr viel Potential für unsere Zukunft hat, aber wie alle diese Themenbereiche auch eine Menge an Gefahren, Herausforderungen und Hypes generiert.
Lukas ist ein perfekter Gesprächspartner für dieses Thema, weil er sowohl in der Spitzenforschung tätig war als auch in der industriellen Praxis mit diesen Themen beschäftigt ist. Diese Mischung scheint mir bei komplexen technischen Fragestellungen und Problemen sehr nützlich zu sein.
Lukas hat nach seinem Studium der Informatik eine Promotion im Spezialgebiet Computational Science gemacht. Anschließend war er mehrere Jahre in der universitären Forschung im Bereich der mathematischen Bild- und Datenanalyse tätig, zuletzt an der Universität Cambridge. Seine Arbeit hat Anwendungen in der medizinischen Bildgebung, in der Molekular- und Zellbiologie, und in der Computer Vision.
Derzeit leitet er den Geschäftsbereich »Data Science and AI« eines Spin-Offs des internationalen Industriekonzerns Voestalpine. Sein Team arbeitet an der Umsetzung von Daten-Projekten in der Erzeugung und Verarbeitung von Spezialmetallen, und am Aufbau eines globalen Data Science Programms für die Produktionsstandorte.
Wir haben dieses umfangreiche Thema in zwei Episoden aufgeteilt:
In der ersten Episode beginnen wir das Thema Data Science einzuführen, auch anhand einiger Beispiele, beginnend mit historischen Beispielen sowie Anwendungsfällen der heutigen Zeit. Wir spannen dabei den Bogen von Tycho Brahe und Florence Nightingale bis zu modernen Sprachassistenten und Entscheidungsunterstützung im Militär und zivilen Bereich.
Dann gibt Lukas einen Überblick über wesentliche Prinzipien und Begriffe, die in diesem Zusammenhang immer wieder auftreten, wie Datascience, die Rolle der klassischen Statistik, Modellierung, Visualisierung, EDA, AI, KI, machine learning, multivariate statistik, Datenqualität und vieles mehr.
Wir sprechen dann über die These die seit einiger Zeit im Raum steht, dass man dank Daten und »AI« ja keine Modelle, keine Theorie mehr benötigt — The End of Theory —, sondern einfach aus Daten lernt und das wäre hinreichend für die wissenschaftliche Betrachtung der Welt.
Wir diskutieren dann Möglichkeiten, Geschäftsmodelle und Grenzen von Machine Learning und Data Science. Wer trifft heute überhaupt Entscheidungen und was ist die Rolle und Funktion eines Data Scientists? Sollten Menschen immer das letzt Wort bei wesentlichen Entscheidungen haben? Ist das überhaupt (noch) realistisch? Welche Rolle spielen regulatorische Maßnahmen wie das aktuelle EU-Framework?
In der zweiten Episode werden wir darauf aufbauend die Frage stellen, wie viel der aktuellen Behauptungen in diesem Feld Realität und wie viel Hype ist. Was können wir in der Zukunft zu erwarten — sowohl im positiven wie auch im negativen? Was sind dominierende Forschungsfragen und wo Grenzen liegen, unerwartete Effekte auftreten, und welche ethischen Fragen durch diese neuen Möglichkeiten zu diskutieren.
Konkret gibt es das Spannungsfeld zwischen Datensparsamkeit und der Idee alles zu sammeln, weil wir das irgendwie in der Zukunft für uns nutzen können. Aber will der Data Scientists überhaupt in Daten untergehen? Führen mehr Daten zu besseren Entscheidungen?
Wir diskutieren wieder anhand konkreter Beispiele für gute und problematische Anwendungen wie predictiver Policing, Mapping und »KI« für militärische Dronenpiloten.
Welche individuelle Verantwortung leiten wir daraus für Techniker ab? Wie geht Lukas selbst mit diesen Herausforderungen um?
Referenzen
Lukas Lang
Andere Episoden
- Episode 40: Software Nachhaltigkeit, ein Gespräch mit Philipp Reisinger
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 32: Überleben in der Datenflut – oder: warum das Buch wichtiger ist als je zuvor
- Episode 31: Software in der modernen Gesellschaft – Gespräch mit Tom Konrad
- Episode 25:Entscheiden unter Unsicherheit
- Episode 19: Offene Systeme – Teil 1 und Episode 20, Teil 2
- Episode 6: Messen, was messbar ist?
Fachliche Referenzen
- Adhikari, DeNero, Jordan, Interleaving Computational and Inferential Thinking: Data Science for Undergraduates at Berkeley
- Melanie Mitchell, Artificial Intelligence: A Guide for Thinking Humans (2020)
- Michael I. Jordan, The revolution hasn’t happened yet
- Hannah Fry, What data can’t do
- Peter Coy, Goodhart’s Law Rules the Modern World. Here Are Nine Examples
- Roberts et al., Common pitfalls and recommendations for using machine learning to detect and prognosticate for COVID-19 using chest radiographs and CT scans
- Antun et al., On instabilities of deep learning in image reconstruction and the potential costs of AI
- Use of AI in breast cancer detection: 94% of AI systems evaluated in these studies were less accurate than a single radiologist, and all were less accurate than consensus of two or more radiologists
- Lukas Lang, What is Data Science?
- Seth Stephens-Davidowitz, Everybody Lies
- Evgeny Morozov, To Save Everything, Click here (2014)
- Meredith Broussard, Artificial Unintelligence (2018)
- Cathy O‘Neill, Weapons of Maths destruction (2017)
- Richard David Precht, Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens (2020)
- Jerry Z Muller, The Tyrrany of Metrics (2018)
- Joseph Weizenbaum, Computermacht und Gesellschaft (2001)
- Margaret Heffernan, Uncharted: How to Map the Future (2021)
- Edward Snowden, Permanent Record (2019)
- Shoshanna Zuboff, Surveillance Capitalism (2019)
- Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit (2020)
- Duncan J Watts, Everything is obvious, once you know the answer (2011)
- Gerd Gigerenzer, Klick: Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen - Vom Autor des Bestsellers »Bauchentscheidungen« (2021)
- Byung-Chul Han, Im Schwarm, Ansichten des Digitalen (2015)
- Marinanne Bellotti, A.I. is solving the wrong problem
- Hannah Fry, Hello World: How to be Human in the Age of Algorithms (2018)
- Hannah Fry, What Statistics Can and Can't Tell Us About Ourselves, The New Yorker (2019)
- David Spiegelhalter, The Art of Statistics: Learning from Statistics (2020)
- James, Witten, Hastie & Tibshirani. Introduction to Statistical Learning (2021)
- The end of theory: The data deluge makes the scientific method obsolete. Wired 6/2008
- Rutherford and Fry on Living with AI: The Biggest Event in Human History
- Deep Mind, The Podcast
- David Donoho, 50 Years of Data Science, Journal of Computational and Graphical Statistics (2017)
- Stuart Russel and Peter Norving, Artificial Intelligence, A Modern Approach, Berkely Textbook (2021)
- Michael Roberts et al, Common pitfalls and recommendations for using machine learning to detect and prognosticate for COVID-19 using chest radiographs and CT scans, Nature Machine Intelligence (2021)
- Neil Thompson, Deep Learning's Diminishing Returns, The Cost of Improvement Is Becoming Unsustainable, IEEE Spectrum (2021)
Thursday Dec 30, 2021
051 — Vorbereiten auf die Disruption? Ein Gespräch mit Herbert Saurugg und John Haas
Thursday Dec 30, 2021
Thursday Dec 30, 2021
In Episode 42 habe ich mit Herbert Saurugg über gesellschaftliche Verwundbarkeit, mit starkem Fokus auf Blackout und die Gründe dafür, sowie die Risiken, die zu wenig im Bewusstsein sind, gesprochen. Wenn wir die Reaktion auf die Covid-Pandemie in vielen Staaten beobachten, sowie den Umgang mit Energiesystemen — Stichwort »Energiewende« — wird vielen Menschen klar, dass eine Disruption, ein katastrophaler Einschnitt, ein Kollaps der gewohnten Prozesse der Moderne durchaus möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich ist.
Ein Blackout des Energiesystems, wie mit Herbert in der vorigen Folge besprochen, ist aber nur eine der zahlreichen möglichen Auslöser von Disruptionen des gesellschaftlichen Lebens und dies mit unter Umständen globalen Dimensionen. Man könnte unter anderem an folgende Auslöser denken:
- Covid-19 als Vorgeschmack anderer (gefährlicherer) Pandemien
- Konflikte großer politischer Systeme (USA, Europa, China, Russland, …)
- Finanz-Crash
- Lieferketten-Risiken (etwa in Folge der Fragilität ausgelöst durch »Just in Time« Optimierung der 1990er)
- Carrington Event (siehe Referenzen)
- IT-Störungen / Hack-Angriffe, außer Kontrolle geratene Systeme usw. (siehe andere Episoden)
In dieser Episode spreche ich wieder mit Herbert Saurugg und als neuer Gast hinzu kommt John Haas:
John Haas ist Psychologe, FH-Lektor und Autor des Bestsellers Covid-19 und Psychologie - Mensch und Gesellschaft in Zeiten der Pandemie
Herbert Saurugg ist internationaler Blackout- und Krisenvorsorge-Experte und betreibt ein Fachblog zum Thema.
Wir beginnen die Episode mit der Frage, was wir unter Moderne und deren Disruptions-Risiken verstehen? Herbert betont, dass wir seit spätestens den 1950er Jahren in einer Netzwerkgesellschaft leben und diese Vernetzung und damit verbundene Komplexität ständig an Fahrt aufnimmt. Wie geht unser Bildungssystem mit diesen Änderungen um?
Wir erleben bei vielen globalen systemischen Problemen eine zeitverzögerte Wirkung wo kleine Ursache große Wirkung zeigen können. Bis heute scheint dies in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht hinreichend verstanden.
Wir versuchen vielmehr alte Strukturen aufrechtzuerhalten, die mit der Komplexität der modernen Welt nicht mehr zusammenpassen — kann das gut gehen? Auch wenn es keine fertigen Lösungen geben mag — in welchen Räumen könnte und sollte man nachdenken?
Aus psychologischer Sicht könnte man sehen, dass die Funktionserwartung der Welt den Diskurs über Disruption voraussetzt!
Was machen wir mit einem »Alten Hirn in einer neuen Welt?«, John
Denken wir immer noch in monokausalen Pfaden und Attributionen? Wie kann unsere »alte Hardware« mit der neuen Welt umgehen (lernen) und was ist in diesem Zusammenhang von dem »Hype-Wort« Resilienz zu verstehen oder zu halten?
Ein »Blackout«, wie in der letzten Folge besprochen, kann als eines, von vielen möglichen Szenarien gelten — in diese Folge stelle ich die Frage, ob wir uns an einer abstraktere Betrachtung und Krisenvorsorge versuchen sollten?
Die Idee, so John, von einem Weltenende begleitet uns seit Jahrtausenden. Was steckt dahinter? Vielleicht tiefenpsychologisch der Drang, die Welt als einfach zu verstehen, nach dem Motto: »Die Welt ist mir zu kompliziert, daher muss das alles mal den Bach runtergehen.« oder theologisch eine Endzeiterwartung?
Sehnen wir uns die Disruption also nur herbei, oder droht sie tatsächlich?
Was bedeutet »vorbereiten« aus psychologischer Sicht? Welche Rolle spielt die evolutionäre Entwicklung unseres Gehirns?
Konkreter gesprochen: was hat es mit dem Ziel als Individuum und Familie 14 Tage autark über die Runde kommen zu können auf sich?
Aber das kann nicht alles gewesen sein: den eigenen »kleinen Misthaufen« zu optimieren, scheint oftmals irrelevant. Wenn in einer vernetzten Welt die Krise über uns hereinbricht — kann man sich da hinreichend isolieren? Sieht jeder nur seine kleine Welt, nicht aber die Risiken der Abhängigkeiten von anderen?
Wie können wir als Gesellschaft und als Politik mit dem Vorsorgeparadoxon umgehen: gerade wenn man gut vorbereitet ist, passiert die Katastrophe nicht und man muss sich unter Umständen rechtfertigen, warum man Geld für eben diese Vorsorge ausgegeben hat. Rächt sich gar die enorm hohe Versorgungssicherheit der letzten Jahrzehnte im Westen heute in Form schlechter Risiko-Kompetenz?
Wie kann bessere Risikokompetenz — wie sie etwa Gert Gigerenzer fordert — erreicht werden?
Was also können wir auf individueller Ebene (als Vorsorge) tun? Welche Rolle spielen Strukturen verschiedener Skalierung (Gemeinde, Stadt, Staat, EU, ...) und was ist auf diesen anderen Ebenen systemisch zu erledigen, aber auch von staatlichen Organisationen wie dem Militär?
Nach Frederic Vester gilt: mit Vernetzung steigt Stabiliät — aber wie lange?
Und ebenso wichtig: welcher psychologischer Hilfsmittel kann ich mich bedienen? Oder birgt gerade die präventive Beschäftigung mit diesen Themen Risiken (für manche Gruppen von Menschen)? Welche Rolle spielt das Individuum als Medienproduzent, sprich: was ist die Rolle des Internets und der sozialen Medien in der Herstellung »richtiger« Strukturen oder der Verhinderung notwendiger lokaler Strukturen? Spielen diese weak ties hier eine wesentliche Rolle oder führen sie eher zu Störung und Ablenkung, gar zu existentieller Verunsicherung bei (manchen) Menschen?
Ein Schwarz/Weiß-Denken hilft letztlich nicht, sondern nur »sowohl als auch«: Der Weg aus der Disruption kann letztlich nur aus einem klugen Zusammenspiel zwischen Individuen, kleinen Gruppen und gesellschaftlichen Strukturen funktionieren, aber wie?
Welche Rolle spielen Effizienz und Optimierung?
Wenn es im Zuge dieser Notwendigkeiten zu einem Verlust der Bedeutung des Nationalstaats kommt, vielleicht sogar kommen muss, welche — auch negativen — Effekte sind zu erwarten?
Und um die politische Dimension weiterzudenken: gibt es eine »linke« und »rechte« oder »libertäre« Betrachtung der Krise? In welchem Wechselspiel sollten wir denken? Welche Rolle spielt Wettbewerb und Kollaboration?
Wo stehen wir global, wenn sich einflussreiche intellektuelle und ökonomische »Eliten« von der Welt mit Phantasien oder Plänen von Rückzug auf einsamen Inseln mit Privatarmeen, durch vermeintliche Kolonialisierung des Weltraums oder in die Singularität des Computers verabschieden?
Was ist psychologisch im Falle einer Disruption zu erwarten? Die extremen Ängste dieser ökonomischen Eliten mit Mord und Totschlag oder eher der Versuch kooperativ wieder einen Normalzustand herzustellen?
Was ist in diesem Fall die Inkompetenz-Illusion?
»Die Menschen können nach wie vor viel, nur unterschätzen sie sich in vielerlei Belangen«, John
Referenzen
John Haas
- John Haas, "Covid-19 und Psychologie - Mensch und Gesellschaft in Zeiten der Pandemie"
- Research Gate
- Persönliche Webseite
Herbert Saurugg
- Fachblog Vernetzung & Komplexität / Blackout
- Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge
- Initiative "Mach mit! Österreich wird krisenfit!"
- Netzwerkgesellschaft
- Email office@saurugg.net
Andere Episoden
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, ein Blick hinter die Kulissen: Gespräch mit Herbert Saurugg
- Episode 45: Mit Reboor oder Rebellion aus der Krise
- Episode 17: Kooperation
Fachliche Referenzen
- Carrington Event: Lloyds, Solar Storm Risk und NASA science: near miss of 2012
- Frederic Vester, Unser Welt — ein vernetztes System, dtv (1983)
- Rupert Riedl, Biologie der Erkenntnis, Parey (1980)
- Gert Gigerenzer, Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, Bertelsmann (2013)
- Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken, Penguin (2016)
- Geoffrey West, Scale, W&N (2018)
- Koyaanisqatsi Film — »Die Welt außerhalb der Balance«
- Steward Brand, Pace Layering: How Complex Systems Learn and Keep Learning (2018)
- Mark Elsberg, Gier, blanvalet (2020)
- Der Seneca-Effekt - Bardi, Ugo
- Der plötzliche Kollaps von allem, John Casti
- Nassim Taleb, Antifragilität, Pantheon (2018)
- Die Zerbrechlichkeit der Welt: Kollaps oder Wende. Wir haben es in der Hand, Stefan Thurner
- Klaus Vondung, Apokalypse ohne Ende, Universitätsverlag Winter, Heidelberg (2018)
Friday Dec 03, 2021
Friday Dec 03, 2021
Dies ist mittlerweile die 50. Episode von Zukunft Denken. Bei einem Podcast mit diesem Namen muss die Frage erlaubt sein, was wir als Gesellschaft überhaupt unter Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstehen. Es bietet sich also diese Episode auch als Zwischenschritt der Selbst-Reflexion an.
Daher freue ich mich, dass ich Prof. Achim Landwehr für ein Gespräch gewinnen konnte. Achim Landwehr ist deutscher Historiker und Germanist, er war unter anderem an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, am Max Planck Institut für Europäische Rechtsgeschichte, und an der Uni Augsburg tätig. Er ist heute Dekan der philosophischen Fakultät der Heinrich Heine Universität Düsseldorf.
In dieser Episode setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie sich das Verständnis der Zeit und der Gegenwart (in Europa) in der Neuzeit verändert hat.
Zuvor war es die Vergangenheit, die positiv besetzt war, oftmals eine Idealisierung der Antike. Die Zukunft galt eher negativ oder vorherbestimmt. Es herrschte ein Zeitverständnis vor, das auf Statik hinausläuft und Stabilität der Verhältnisse idealisiert, beziehungsweise eine Rückkehr zu den Ideen der Antike. Das Neue heißt Veränderung und ist eher nicht erwünscht, weil es eine Veränderung zum schlechteren ist.
»Die Aussichten auf das Leben waren für die Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts nicht unbedingt erfreulich. Die Dinge, die da kommen würden, waren schon längst vorherbestimmt, man musste eigentlich nur noch auf ihr Eintreffen warten. Die Wegweiser zeigten eindeutig in Richtung Untergang, […]«
Mit der Neuzeit beginnt sich manches zu ändern.
»Seit der Antike gilt: es ist egal wann sie geboren sind oder sterben, es läuft immer dasselbe Stück – Dies stimmt seit 200 Jahren nun nicht mehr.«, Peter Sloterdijk
Aber was ist es, das sich ändert? Wo setzen wir Epochen? Denn Rückschau verzerrt die Dinge auch immer: je weiter weg, desto stabiler erscheinen sie uns und wir bekommen ein Perspektivenproblem. Und so deckt sich die Wahrnehmung der Zeit nicht immer mit der Wahrnehmung der Rückschau:
»1450-1500 wurden europaweit genauso viele Bücher produziert wie in den eintausend Jahren zuvor — es war eine mediale Explosion!!«
So ist auch die Rolle des 30 jährigen Krieges heute den meisten kaum gegenwärtig: die Zerstörung und Verunsicherung war enorm — es war wohl die größte menschengemachte Katastrophe bis zum 20. Jahrhundert
Und dennoch verschieben sich die Dinge: Das Zeitalter der Universalgelehrten geht langsam aber sicher zu Ende — sofern der Begriff des Universalgenies überhaupt von der Menge der Information abghängig ist? Aber auch das christliche apokalyptische Denken wird brüchig.
Gegenwart ist zunächst ein räumlicher Begriff, der dann abstrahiert auf das Verständnis der Zeit wird. Zeitbegriffe können also auch als Abstraktion verstanden werden.
Abstraktion, die wir in Wirkungen auf zahlreiche Bereiche beobachten können: von den Anfängen der Naturwissenschaft, über die Sprache und Politik bis zum Versicherungswesen verändert sich der Umgang mit der Welt und der Zeit. Die Rolle der Naturwissenschaften liegt dabei nicht nur im Veständnis der Welt sondern besonders auch im Verständnis der Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit der Welt und führt langsam zur Ausformung der modernen wissenschaftlichen Disziplinen.
Auch die zunehmende Technik spielt natürlich eine Rolle, die etwa Uhrengebrauch hervorbringt und Prozesse erfordert, die diese technischen Systeme der industriellen Revolution am Laufen halten.
Nicht immer kommen die heute bekannten Umbrüche aber von sogenannten Progressiven, manchmal werden aus Traditionalisten (ungewollt) Revolutionäre, wir wir am Beispiel von Galileo, Kepler und Descartes diskutieren — sozusagen eine »Neuzeitlichkeit wider Willen«.
»Pflanzen binden Energie. Tiere binden Raum, sie können sich bewegen, jagen, Energie und Ressourcen eines wesentlich größeren Raumes einfangen. Menschen allerdings, sind in der Lage Zeit zu binden: wir können die Erfahrungen einer Generation erfassen und an die nächste weitergeben.«, Douglas Ruskoff
Wie gehen wir dann mit diesen neuen Möglichkeiten und auch gesellschaftlichen Ideen der Gegenwart und Zukunft um — im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert? Um die Idee der Zeitbindung weiter zu spinnen: folgen aus den neuen Technischen Möglichkeitung und dem Binden der Zeit neue Verantwortungen?
Prof. Landwehr betont, dass selten eine einzelne Wahrnehmung von Zeit und Geschwindigkeit gilt, sondern dass eher eine Pluritemporalität vorherrscht. Auch in der heutigen Zeit. Dazu passt auch das Zitat von Herfried Münkler:
»Demokratie ist eine träge Maschinerie, konzipiert um Entscheidungen zu verlangsamen.«
Zuletzt bewegen wir uns in die heutige Zeit. Was bedeutet die zunehmende Ökonomisierung der Zeit, Zeit als Ressource und Zeit als Lebensqualität? Wie gehen wir wir mir diesen Pluritemporalitäten heute um? — von Nostalgie (die zu gewissen Zeiten auch als Krankheit galt) bis zu den zum Teil abstrusen Widersprüchen von Retropien bis zur techno-Phantasie der Singularität.
»Wir leben in einer besonderen historische Phase, in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann hat dagegen keine.«, Byung-Chul Han
Am Ende gibt es noch eine — von historischer Perspektive getragene — optimistischen Blick in die Zukunft und den Umgang mit apokalyptischen Vorstellungen, die die Menschheit ebenfalls seit langer Zeit begleiten.
»Wenn Apokalypse nie ausstirbt, dann heißt das aber auch: Die Welt geht nie unter. Das ist dann vielleicht die positive Konsequenz, die man daraus ableiten könnte.«
Referenzen
Prof. Achim Landwehr
andere Episoden
- Episode 9: Abstraktion: Platos Idee, Kommunismus und die Zukunft
- Episode 12: Wie wir die Zukunft entdeckt und wieder verloren haben
- Episode 44, Was ist Fortschritt, im Gespräch mit Philip Blom
- Episode 37 – Probleme und Lösungen (Über Generalisten)
fachliche Referenzen
- Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart: Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Fischer (2014)
- Achim Landwehr, Diesseits der Geschichte, Wallstein (2020)
- Douglas Rushkoff, Present Shock, Current (2013)
- Peter Sloterdijk: Sternstunden Philosophie
- Philipp Blom: Was auf dem Spiel steht, Hanser (2017); (Zitat Herfried Münkler)
- Alexander Luria
- Byung-Chul Han, Psychopolitik, S. Fischer (2014)
- Zygmunt Baumann, Retrotopia, Edition Suhrkamp (2017)