Episodes
Monday Apr 24, 2023
Monday Apr 24, 2023
Das Thema der heutigen Episiode ist: »Scheitern an komplexen Problemen? Wissenschaft, Sprache und Gesellschaft«
Covid, Klimawandel, Energiewende oder geopolitische Krisen sind komplexe Herausforderungen. Herausforderungen, in denen sich verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse mit politischen und gesellschaftlichen Interessen überschneiden. Unterschiedliche Meinungen, und damit Konflikt ist geradezu eine natürliche Folge solcher Probleme.
Und immer öfter scheinen wir an diesen Herausforderungen zu scheitern, und nicht nur das: wir Polarisieren dabei zunehmend unsere Gesellschaft, drohen liberale und demokratische Werte zu gefährden und beschädigen Wissenschaft und Politik auf dem Weg.
So erleben wir auch eine Renaissance von Paternalismus und Autoritarismus — und dies nicht unbedingt von der politischen Seite, von der es von vielen erwartet wurde. Wollen wir die Entscheidung über wesentliche gesellschaftliche Entscheidungen wenigen Auserwählten überlassen oder doch eine breite und informierte gesellschaftlichen Legitimierung anstreben?
Stecken wir fest? Was geschieht, gerade und welche Rolle spielt Sprache und Diskurs?
Diese Folge jongliert mit einer Reihe von politisch und gesellschaftlich heißen Themen und gerade darum freue ich mich sehr, dieses Gespräch mit Jan David Zimmermann führen zu können.
Jan ist Autor, Journalist und Wissenschaftsforscher, hat auch gerade ein neues und äußerst empfehlenswertes Buch herausgebracht.
Ich möchte nochmals betonen, daß wir Covid, Klimawandel und andere Krisen ansprechen, aber es geht in keinem dieser Fälle darum, konkrete sachliche Fragen der Krisen zu diskutieren oder zu beurteilen.
Vielmehr interessiert uns eine Meta-Frage: wie diskutieren wir aktuell und wie sollten wir derartig schwierige und komplexe Fragestellungen in der Gesellschaft diskutieren, wo schwerwiegende und langfristig wirksame Entscheidungen unserer Ansicht nach demokratisch legitimiert sein müssen.
Wir beziehen keine sachliche Position zu Covid- oder Klimawandel - Fragen, sondern diskutieren auf der Meta-Ebene, wie wir gesellschaftlich und wissenschaftlich mit diesen Themen umgehen, beziehungsweise umgegangen sind, und welche zum Teil erheblichen Fehler aus unserer Sicht hier gemacht wurden. Wie funktionieren — oder funktionieren eben nicht — wesentliche gesellschaftliche Diskurse
»Wissenschaft ist eine tolle Sache um die materielle Welt zu verstehen, aber es dauert Zeit. Es bedarf Debatten und Diskussionen. Das Problem ist dabei nicht so sehr Wissenschaft: sondern wir haben einige hochrangige Bürokraten in die Position eines Papsts erhoben«, Jay Bhattacharya
»Wenn Kritiker ihre Kugeln auf Tony Fauci abfeuern, dann erkenne die Menschen, da ist eine Person. So ist es einfach zu kritisieren, aber sie kritisieren tatsächlich Wissenschaft. Denn ich repräsentiere Wissenschaft.«, Dr. Anthony Fauci
Ist Fauci Wissenschaft? Wer repräsentiert Wissenschaft? Was ist Wissenschaft, vor allem auch hinsichtlich der gesellschaftlichen und politischen Wirkung?
Sollten wir Wissenschaft nicht als ständigen Diskurs und Selbstreflexion auch mit einer wesentlichen historischen Dimension begreifen und behandeln? Wissenschaft nach Bourdieu als soziales System sehen?
"Wenn es darum geht, Menschenleben zu retten, mache ich keine Kompromisse.", Wolfgang Mückstein
und
»Aber ich sage Ihnen auch ganz offen, dass der Maßstab nicht das ist, was wir glauben, was wir jetzt machen wollen, sondern der Maßstab ist, was uns die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu dem Thema sagen.«, Angela Merkel (2020)
Was bedeutet das? Wer entscheidet was der Maßstab ist. Welcher Wissenschafter ist überhaupt in der Lage eine relevante Aussage in einer komplexen Systemlage zu geben?
Haben wir — besonders deutlich in der Covid-Krise —Entkontextualisierung und Enthhistorisierung sowie eine deutliche Verengung von Diskurs erlebt? Mit welchen Folgen? Der Mediziner Martin Sprenger spricht von einem virologischen Tunnelblick.
Aber das Problem ist nicht alleine auf den vermeintlichen Extremfall Covid begrenzt. In Deutschland wurde etwa eine Meldestelle für ideologische Abweichung eingerichtet. Dies könnte man als deutliches Beispiel für den Versuch einer autoritären Verengung des Diskurses und Zensur, sehen. Aber auch Framing ist ein wichtiges Mittel der Verzerrung medialer Diskurse Beispiel Ivermectin — haben Joe Rogan und zahlreiche andere Prominente »Pferdewurmmittel« genommen — oder ist das ein Framing um den Diskurs zu vermeiden und sie lächerlich zu machen?
Was ist vom Begriff der »Verschwörungstheorie« zu halten? Natürlich gibt es solche, aber wurde der Begriff möglicherweise inflationär, gar als Kampfbegriff verwendet? In zahlreichen Medienkommentaren erleben wir einen stärker werdenden Paternalismus. Wir wissen, was gut für euch ist — Narrative treiben die Berichterstattung und teilen die Bevölkerung sowie die Ansichten in »Gut« und »Böse« ein.
Vielen scheint es schwer zu fallen zu sehen, dass auch gegensätzlich scheinende Dinge gleichzeitig zutreffen können: Pfizer hat sich einerseits äußerst fragwürdiger Praktiken bedient und wurde dafür in den USA zur höchsten Strafe verurteilt, die das Justizministerium je verhängt hat und kann gleichzeitig auch lebenswichtige Pharmazeutika produzieren. Kritisches Hinterfragen von Großunternehmen wie Pfizer ist dringen notwendig, ohne gleich das Kind mit dem Bad ausschütten zu müssen.
Auch die Frage, ob Forschung einen immer stärker ideologischen Einschlag hat, im besonderen bei politisch wesentlichen Fragestellungen, darf kein Tabuthema sein. Zu viel hängt von den Ergebnissen der Forschung ab, und zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass die Qualität der Forschung in verschiedener Disziplinen sehr schlecht ist.
Wissenschafter selbst sind wie alle Menschen vielschichtig. Sie können in einer Sache recht und in anderen völlig unrecht haben. Billiges canceln (siehe z.B. David Hume) ist infantil und nicht zielführend. Ein genauer Blick immer notwendig und nicht nur ein blinder Fokus auf das Jetzt und das Ich und die eigene Meinung. Auf die Pandemie gemünzt hat Johannes Lehmann vom »Bann der pandemischen Gegenwart« gesprochen.
Zahlreiche Paradoxien tauchen auf und wir diskutieren einige beispielhaft. Aber auch die Wirkmacht der Krise als politisches Mittel wird Thema; Giorgio Agampen spricht vom Ausnahmezustand als politischem Instrument beziehungsweise Herrschaftsmittel, Naomi Klein hat schon vor vielen Jahren vor einer »Schock Doktrin« gewarnt.
Wir erleben das regelmäßig bei heutigen Aktivisten: Aufgrund der Krise X gibt es angeblich gar keine Zeit mehr für Widerspruch, für Diskurs! Demokratie ist ein Hindernis und wir sollten alleine den Aktivisten folgen. Ist das eine gute Idee?
»Die Sprache der Öffentlichkeit ist eskaliert und gleichzeitig hat sich der Diskurs verengt.«
Wir nennen Beispiele für diese Eskalation und Radikalisierung in ehemals linksliberalen Medien wie etwa dem Standard oder dem Falter in Österreich, der Zeit in Deutschland.
»Ich wünsche mir einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine«, Eva Illousz, die Zeit
klingt bedrückend ähnlich zu
»Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen, totalen Sieg der deutschen Waffen?«, Joseph Goebbels, Sportpalast Rede (1943)
Und dies sind keine Einzelfälle. Sarah Bosetti etwa entgleist und vergleicht Menschen mit einem Blinddarm der entfernt werden kann.
Wie hängt das alles mit der immer stärker werdenden Identitätspolitik zusammen? Definiert Identität Freibrief von Sprache und Handlung? Sind etablierte Prinzipien eines Rechtsstaat nichts mehr wert, wenn ich nur die richtige Identität behaupte?
Wir haben erheblichenSchaden an wesentlichen gesellschaftlichen Strukturen angerichtet, und dies gepaart mit einem Vertrauensverlust. Waren dies unvermeidbare Fehler oder eher Ungeschicklichkeit und Überheblichkeit von Eliten, die ihre eigenen Fähigkeiten bei weitem überschätzt haben. Ist Paternalismus und moralische Überhöhung in Ordnung um die Bevölkerung nicht zu verwirren, oder zerstört das den Zusammenhalt in einer modernen Gesllschaft?
“The trust we have in each other and in our institutions is a measure of social health around the world.”, Todd Rose
Die Kompetenz heutiger (wissenschaftlicher) Eliten waren ebenfalls in früheren Episoden ein Thema. So gibt eine Asymmetrie des Vertrauens (in Medien und Menschen): nicht der Durchschnitt zählt, sondern der Ausreißer, der »Betrug«.
»Komplexe Themen brauchen komplexe Diskussionen«
Entgegen der heutigen Schlagwort-Diversität am Oberflächlichen orientiert, gibt es tatsächlich in Institutionen und an Unis immer weniger relevante Diversität, das heißt intellektuelle Diversität — Unterschiede in Meinung und Weltanschauung.
Bei komplexen Fragestellungen können einzelne Personen nie »die Wahrheit« finden. Das bedeutet, der Diskurs muss im Zentrum stehen. Aber wie können wir konstruktiven Diskurs von Ablenkung durch Esoterik und Pseudowissenschaft unterscheiden?
Brauchen wir eine zweite Aufklärung, und wie könnte diese Aussehen?
Umsetzung komplexer Maßnahmen erfordert Vertrauen und Legitimation durch große Teile der Bevölkerung. Paternalistisch und autoritär verordnete Ideen führen spätestens mittelfristig zu starken Gegenreaktionen, die das möglicherweise richtige Ziel erst recht beschädigen. Wie damit umgehen?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 11: Ethik, oder: Warum wir Wissenschaft nicht den Wissenschaftern überlassen sollten!
-
Episode 13: (Pseudo)wissenschaft? Welcher Aussage können wir trauen? Teil 1
-
Episode 14: (Pseudo)wissenschaft? Welcher Aussage können wir trauen? Teil 2
-
Episode 25: Entscheiden unter Unsicherheit
-
Episode 29: Fakten oder Geschichten? Wie gestalten wir die Zukunft?
-
Episode 32: Überleben in der Datenflut – oder: warum das Buch wichtiger ist als je zuvor
-
Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann
-
Episode 39: Follow the Science?
-
Episode 47: Große Worte
-
Episode 57: Konservativ UND Progressiv
-
Episode 67: Wissenschaft, Hype und Realität — ein Gespräch mit Stephan Schleim
Jan David Zimmermann
- Homepage
- Facebook: Jan D. Zimmermann
- Instagram: j._zimmermann
- Buch: Lethe. Vom Vergessen des Totalitären (Webseite, Amazon)
Fachliche Referenzen
- Interview mit Rossana Segretto, Tiroler Tageszeitung (2021)
- Drosten und Fauci: Das Versagen von Wissenschaft und Ethik, Cicero (2023)
- Peter Daszak, Christian Drosten et al, Statement in support of the scientists, public health professionals, and medical professionals of China combatting COVID-19, The Lancet (March 2020)
- Tony Fauci:
- Fox News 1
- Fox News 2
- CBN News
- Jacqueline Howard, Dr. Anthony Fauci says publicly released email about lab leak is being misconstrued, CNN (2021)
- Fauci representing science: Megyn Kelly (2022)
- Former CDC Director Redfield at hearing
- Megan K. Stack, Dr. Fauci Could Have Said a Lot More, New York Times Opinion (2023)
- Wiesendanger-Studie, Uni Hamburg (2021)
- Jan David Zimmermann, Frankensteins Erbe, Wissenschaft zwischen Gut und Böse, Cicero (2022)
- Todd Rose, Collective Illusions: Conformity, Complicity and the Science of Why We Make Bad Decisions, Hachette (2023)
- Wolfgang Mückstein Zitat, Kleine Zeitung (2021)
- Angela Merkel, Pressekonferenz (2020)
- Jay Bhattacharya im Triggernometry Podcast (2023)
- Meldestelle Antifeminismus (Deutschland): Nele Pollatschek, Vielleicht sind wir kollektiv ein bisschen drüber, Süddeutsche Zeitung (2023)
- Der totale Sieg
- Eva Illousz, die Zeit 16.2.2023 (Print); 18.2.2023 (online)
- Joseph Goebbels, Sportpalastrede (Wikipedia)
- Jan David Zimmermann über den Illousz Kommentar: Der Wunsch nach dem totalen Sieg, Stichpunkt (2023)
- Christoph Zielinski, Warum diese Angriffe auf die Wissenschaft? Der Standard (2023)
- Sarah Bosetti »Blinddarm« Tweet (2021)
- Sweden, Covid and 'excess deaths': a look at the data, Spectator (2023)
- John Tierney, COVID-19, Lessons we should have learned (2022)
- Great Barrington Declaration
- Bret Stephens, The Mask Mandates Did Nothing. Will Any Lessons Be Learned?, NYT (2023), und der Cochrane Bericht
- Long Covid, Masks, Equipoise, RCTs, Lockdown & More, ID Ethicist
- Lab Leak Hypothesis:
- Klimawandel
- Roger Pielke Jr., What the media won't tell you about . . . hurricanes
- Roger Pielke Jr., What the media won't tell you about . . . Drought in Western and Central Europe
- Paul S. Kench et al, Patterns of island change and persistence offer alternate adaptation pathways for atoll nations, Nature (2018)
- Thomas Stocker (Vorsitzender des fünften UN-Klimareports) über Kipppunkte und Klima-Berichterstattung: "Eigentlich brauchen wir die Drohkulisse der Kipppunkte nicht", Die Zeit (2022)
- Justice Department Announces Largest Health Care Fraud Settlement in Its History — Pfizer to Pay $2.3 Billion for Fraudulent Marketing (2009)
- ORF Artikel über »geringe psychische Folgen der Pandemie« (2023)
- Pierre Bourdieu, Homo Academicus, Suhrkamp (1992)
- Johannes F. Lehmann, Aus dem pandemischen Jetzt (2022)
- CNN Business, FDA on Ivermectin “You are not a horse, you are not a cow” (2021)
- Joe Rogan und Sanjay Gupta über CNN / Ivermectin
- Kenan Malik, David Hume was a complex man. Erasing his name is too simplistic a gesture, The Guardian (2020)
- Giorgio Agampen, An welchem Punkt stehen wir?: Die Epidemie als Politik, Turia + Kant (2021)
- Naomi Klein, The Shock Doctrine, Penguin (2008)
Thursday Mar 30, 2023
071 — Stagnation oder Fortschritt — eine Reflexion an der Geschichte eines Lebens
Thursday Mar 30, 2023
Thursday Mar 30, 2023
Ich habe vor drei Jahren einige Episoden (16 und 18) aufgenommen, bei denen ich die Frage stelle, ob wir tatsächlich in einer Zeit bahnbrechender Innovationen oder eher in einer der Stagnation leben. Ich möchte jetzt das Thema nach dieser Zeit nochmals aufgreifen, hinterfragen und vielleicht mit neuem Kontext versehen. Bin ich richtig gelegen?
Ich werde dies mit einer Geschichte beginnen, mit der Geschichte zweier Brüder, Paul (1894 – 1981) und Attila Hörbiger (1896 – 1987). Beide sind in der Mitte der 1890er Jahre geboren und in den 1980er Jahren verstorben. Sie haben also einen großen Teil des 20. Jahrhunderts erlebt und sind Zeugen des Umbruchs der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Attila Hörbiger als bei den Salzburger Festspielen 1947 (Wikimedia Commons)
Ich erzähle eine kurze Geschichte ihres Lebens, wobei nicht im Detail ihr Lebensweg im Zentrum steht, sondern vielmehr am Beispiel ihres Lebens, in welcher Welt sie aufgewachsen sind, gearbeitet, ihre Familien gegründet und ihre letzten Lebensjahre verbracht haben. Ihre Geschichte dient als greifbares Beispiel, welche Veränderungen wir als Gesellschaft erlebt haben, und als Anregung darüber nachzudenken, was vor und nach dem Tod der Brüder passiert ist.
Was also bedeutet Fortschritt im Rahmen eines Lebens? Und, vor allem im Rahmen eines Lebens, das sich von der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre gezogen hat im Vergleich etwa zu meiner bisherigen Lebenszeit die von den 1970er bis heute reicht?
Erleben wir, wie ich in den älteren Episoden diskutiert habe, seit den 1970er Jahren eine Stagnation oder tatsächlich — wie so häufig behauptet — enorme Beschleunigung technischer und gesellschaftlicher Fortschritte?
Sind alle Bereiche von Wissenschaft und Technik gleich zu betrachten? Wie ist die Situation in unterschiedlichen Regionen der Welt?
»Von Anwälten und Ökonomen über Programmierer und Finanz-Manager gilt, deren unproportionaler Gewinn ist für Arbeit, die völlig von den materiellen Realitäten der Welt entkoppelt sind. […]
sie laufen herum mit der neuen Tech—Typen, die in deren Naivität jeden technischen Wandel mit kürzlichen Entwicklungen in Elektronik und vor allem Mobiltelefonen vergleichen«, Vaclav Smil
Was könnte die nähere und mittlere Zukunft bringen? Weitere Stagnation? Ein Durchstarten, weil wir die letzten Jahrzehnte genutzt haben, Know-How aufzubauen, das jetzt erst Anwendung findet? Ein Steampunk-Szenario, wo Versagen in verschiedenen Bereichen und Regionen (die sogar vor die 1960er Jahre zurückfallen) einem enormen Wandel in anderen gegenüberstehen?
Wer wird diese Entwicklungen treiben? Die bisher bekannten oder eher atypische Akteure?
Was sind Gründe für die aktuelle Situation, was können und sollten wir ändern um die Entwicklungen im Griff zu halten?
»Der Spalt zwischen Wunschdenken und Realität ist enorm.«, Vaclav Smil
Referenzen
andere Episoden
-
Episode 65: Getting Nothing Done — Teil 2
-
Episode 64: Getting Nothing Done — Teil 1
-
Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
-
Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik, Fortschritt oder Stagnation
-
Episode 16: Innovation und Fortschritt oder Stagnation?
-
Episode 15: Innovation oder Fortschritt?
fachliche Referenzen
- Vaclav Smil, How the World Really Works, Penguin (2022)
- Elon Musk Zitat: Alex Epstein, Fossil Future,Portfolio (2022)
- Kevin Esvelt, Delay, Detect, Defend: Preparing for a Future in which Thousands Can Release New Pandemics (2022)
- USAID Announces New $125 Million Project To Detect Unknown Viruses With Pandemic Potential
- Sam Harris, Recipes for Future Plagues, Conversation with Rob Reid and Kevin Esvelt
- »Heiße Dusche«, Tim Urban with Lex Fridman (2023)
- Brian Potter, When did New York start building slowly? (2023)
Tuesday Mar 07, 2023
070 – Future of Farming, a conversation with Padraic Flood
Tuesday Mar 07, 2023
Tuesday Mar 07, 2023
Today's topic is future of farming. Farming is a bedrock of our society and culture, and at the same time one of the largest contributors to environmental degradation. So, how we can feed the population of the world in the future sustainably is a subject I wanted to cover already for some time. But it was important to find an expert who can bring together theoretical knowledge and real business application and experience.
I am very happy that Pádraic Flood agreed to join me for this conversation. He is currently team lead for crop genetics at Infarm, a vertical farming company.
Before he joined Infarm, Pádraic served as a research scientist at Wageningen University, one of the world’s top agricultural research institutions, where he also completed his Ph.D. Before that, Pádraic held an appointment at the Max Planck Institute for Plant Breeding Research.
Over the past decade, Pádraic has worked in universities using genetics to understand key scientific questions ranging from photosynthesis to how plants adapt to extreme environments.
Pádraic is not only an excellent scientist, but deeply passionate about tackling the challenge of feeding the world without destroying the environment. In addition to breeding and improving crops currently cultivated by infarm, he is pursuing ways to make staple crops viable in indoor farming which, if successful, could free up vast areas of land for nature and biodiversity restoration and go a long way towards achieving food security.
As farming as bedrock of our society we start with a look into our past. What is domestication and breeding? What are we eating today? Old species, e.g. maize are unrecognisable in the original form compared with our modern ones. Breeding was an intergenerational project of humanity. So, what is natural? Unnatural? Is unatural, what is created by humans — which seems to be a rather strange idea?
Also, farming was independently discovered seven times around the world — what does that tell us? What is convergent evolution?
Then we discuss the impacts of farming on nature and environment. How can we reduce the impact of farming while at the same time producing enough food for humanity.
What are GMOs and how is genetic modification different from older breeding technologies?
Then we talk about the 20th century. Were the Malthusian warning voices correct? How did Paul Ehrlichs “population bomb” play out and what did the green revolution with Norman Borlaugh achieve?
“rising food production reduced the malnutrition rate from 2 in 3 people in 1950 to 1 in 11 by 2019. This impressive achievement is even more noteworthy if expressed in a way that accounts for the intervening large-scale increase of the global population, from about 2.5 billion people in 1950 to 7.7 billion in 2019. […] we could not harvest such abundance, and in such a highly predictable manner, without the still-rising inputs of fossil fuels and electricity.”, Vaclav Smil
Modern technology and energy production managed to reduce the labor needed to produce a kilogram of grain by more than 98 percent between 1800 and 2020.
“Growing the grain, milling it, and baking a 1-kilogram sourdough loaf thus requires an energy input equivalent of at least 250 milliliters of diesel fuel.” (150-500ml Diesel per kg tomatoes in Spain (unheated / heated) — ~ same amount like chicken), ibid
Which role do agricultural chemicals role such as herbicides and fertilisers play?
Agriculture is not only about carbon emissions. Purely looking at it through a “carbon lense” is misleading, more relevant seems the planetary boundaries framework. For instance the role of biodiversity, land use and other impacts are of huge importance. Land use is one of the major concerns, considering thet 50% of habitable land mass is used by agriculture.
Carbon tunnel vision is a real issue today and leads to significant mistakes in politics and activism, as I have discussed in other podcast episodes already.
Planetary Boundaries, J. Lokrantz/Azote based on Steffen et al. 2015
What about organic farming? It turns out, it is by far not such a good idea as often promoted. Pádraic explains what the problems are. One serious issue are externalities, where other nations pay the price for our “organic” greenwashing.
One of the major challenges is to manage energy and matter flows better on a global level. As energy plays a significant role in agriculture we discuss the important role of nuclear energy in a green economy, escpecially considering land use in comparison with wind and solar energy.
Risk perception is often not aligned with actual risks.
As one recent example, we discuss the Sri Lanka organic farming disaster, food security and national security:
“In the end, for most crops, organic farming is not net beneficial. It is actually worse for the environment than conventional food production. And people spend even extra money, thinking they do something good., when in many respects they probably are causing more harm.”
Organic food has a large international lobby with a vested interest to promote a green narration, preserve the well functioning but misleading marketing claims, despite of the realities on the planet. On top of that, some organic farming practices leave the realm of rationality and incorporate a number of esoteric ideas that contribute nothing to the environment or to human health, such as biodynamic practices.
“What is allowed in organic is not necessarily allowed because it is safer but just because we done it like that for a long time.”
One example is copper sulfate or organic insectisides, as Pádraic explains in this episode.
What we need going forward, is evidence based agriculture, not dogmatic organic / naturalistic ideas, that are stuck in the past and do more harm than good to nature and humanity.
“Dogma is not adaptive” and
“Silver bullets are only good for killing magical creatures”
What about meat and what role has carneval to play here? Where is science and technology standing in terms of lab grown meat? Evidently, in some countries lab grown chicken nuggets are already a thing?!
One of the major recent innovations seems to be precision fermentation, which could become one of the most exiting new tools in our future farming toolbelt.
“Currently, we are eating our planet”
Now, looking into the future: how could we achieve decoupling food prodcution from ecosystem destruction. How can we feed 9-11 billion people well without eating the planet and create food resilience along the way? Some practices we talk about are
- indoor farming
- precision fermentation
- lab meat
- biotechnology, GMO, Crispr/CAS
Also “doing nothing has risks”
Especially the new bio technologies, synthetic biology seems to offer a lot of opportunities for the future of farming, but also opens up significant new risks. We see a democratisation of bio-technology and synthetic biology — can this be a good thing?
And finally I ask Pádraic: if young people would want to work in these important fields, what could they do instead of glueing themselves to paintings and bridges?
References
Previous Episodes
- Episode 62: Wirtschaft und Umwelt, ein Gespräch mit Prof. Hans-Werner Sinn
- Episode 59 und 60: Wissenschaft und Umwelt 1 & 2
- Episode 48: Evolution, ein Gespräch mit Prof. Erich Eder
- Episode 45: Mit Reboot oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 46: Activism, a conversation with Zion Lights
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 36: Energiewende und Kernkraft, ein Gespräch mit Anna Veronika Wendland
- Episode 33: Naturschutz im Anthropozän – Gespräch mit Prof. Frank Zachos
- Episode 22: Biodiversität und komplexe Wechselwirkungen – Gespräch mit Prof. Franz Essl
Padraic Flood
- Twitter: @PdraicFlood
- Padraic Flood on LinkedIn
Literature and Links
Monday Feb 13, 2023
069 — Complexity in Software
Monday Feb 13, 2023
Monday Feb 13, 2023
Ich möchte Sie auf eine Vorlesung hinweisen, die Sie im Zukunft-Denken YouTube-Kanal finden. Der Titel ist: “Complexity in Software — Handle with Care”
Die Vorlesung ist in Englisch und hat Software-Entwicklung und Management im Fokus, betrachtet aber das Thema Komplexität in einem breiteren Sinne und ist insofern auch für nicht-Software-Interessierte von Relevanz.
Wenn Sie an Software wenig interessiert sind — das Video hat Kapitelmarken, überspringen Sie eventuell: “Why is Complexity in Software a Problem?”
Was sind die Themen die in der Vorlesung behandelt werden:
- Was ist Komplexität?
- Was sind zahme und wicked problems?
- Was sind Attraktoren in komplexen dynamisch stabilisierten Systemen?
- Warum wird das Zusammenspiel von Software und anderen gesellschaftlichen Services immer kritischer?
- Was ist Komplexität in Software? Was sind treibende Faktoren, wie kann man Komplexität reduzieren?
- Warum ist Komplexität in Software überhaupt ein Problem?
- Was ist Emergenz, was sind Beispiele für emergentes Verhalten?
Und der letzte Teil der Vorlesung ist relativ generisch in dem Sinne, dass ich versuche zu beschreiben:
- Wie reagieren Menschen in Systemen auf komplexe Probleme
- Welche Reaktionen sinnvoll sein können, unter welchen Umständen und welche nicht zielführend sind
- Welche neuen Management-Paradigmen sollte man überlegen
- Welchen Einfluss spielen Metaphern in unserem Blick auf die technische Welt?
Zum Abschluss führe ich noch kurz in eine für mich sehr faszinierende Idee von Stewart Brand ein, die er Pace Layering nennt. Eine Form von Schichtenmodell der Welt, die unterschiedliche Geschwindigkeiten gegeneinander darstellt und was für uns als Gesellschaft aber auch Techniker und Manager daraus folgt.
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 64: Getting Nothing Done
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, ein Blick hinter die Kulissen: Gespräch mit Herbert Saurugg
- Episode 40: Software Nachhaltigkeit, ein Gespräch mit Philipp Reisinger
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 35: Innovation oder: Alle Existenz ist Wartung?
- Episode 31: Software in der modernen Gesellschaft – Gespräch mit Tom Konrad
- Episode 27: Wicked Problems
- Episode 19: Offene Systeme
- Episode 10: Komplizierte Komplexität
Fachliche Referenzen
- siehe YouTube-Video-Beschreibung
Monday Jan 30, 2023
068 — Modelle und Realität, ein Gespräch mit Dr. Andreas Windisch
Monday Jan 30, 2023
Monday Jan 30, 2023
Das Thema der heutigen Episode ist »Modelle«. Was ist ein Modell in Bezug zur Realität, welche Art vom Modellen gibt es und wie sollten wir als Gesellschaft mit Modellen umgehen, im besonderen bei Fragen, die das Verhalten komplexer Systeme in die Zukunft projeziert, wie etwa Klimamodelle.
Mein heutiger Gesprächspartner ist, und das freut mich besonders, ein wiederkehrender Experte, Dr. Andreas Windisch. Andreas ist ein theoretischer Physiker, der 2014 an der Universität Graz sub auspiciis praesidentis promoviert hat. Nach mehreren Jahren als PostDoc an der Washington University in St. Lous in den USA (Schrödinger Fellow des öst. Wissenschaftsfonds) kehrte er nach Österreich zurück, und übernahm die Rolle eines Forschungsteamleiters bei 'Know-Center', einem Forschungszentrum für KI.
Andreas ist Mitbegründer und Leader der Reinforcement Learning Community, einer eigenständigen Arbeitsgruppe, die Teil des unabhängigen Think Tanks 'AI AUSTRIA' ist. Zudem ist Andreas Honorary Research Scientist der Washington University in St. Louis, er betreut Start-Ups bei dem European Space Agency Inkubator Science Park Graz und lehrt KI an der FH-Joanneum. Seit März 2022 hält er auch eine Stelle an der TU-Graz.
Was ist ein Modell? Wie verhält sich ein Modell zur Realität, zur Natur? Welche Rolle spielen Variable und Freiheitsgrade? Andreas erklärt zunächst fundamentale Modelle — am Beispiel des Standardmodell der Teilchenphysik.
»Der Natur ist unsere persönliche Sichtweise natürlich egal.«
Damit ist die Suche nach der Abweichung vom Modell ein wesentlicher Aspekt der Modellierung. Was hat es mit der Filterung durch unsere Sinne und durch unsere Instrumente auf sich? Können wir überhaupt ohne Modell und Theorie Beobachtungen machen?
Warum ist Platons Höhlengleichnis ein gutes Beispiel für Modell und Realität?
Welche Arten der Modellierung gibt es? Vom bottom up / fundamentalen Modell zur Welt im Großen, zu effektiven Modellen? Damit stellt sich die Frage: kann ich die Welt im Großen aus dem fundamentalen Verständnis des Kleinstes modellieren? Also: kann ich mit dem Standardmodell der Teilchenphysik etwa das Klima modellieren? Sollte es nicht nur ein Modell der Welt geben?
Andreas erklärt, warum dies nicht möglich ist. Damit stellt sich die Frage: was ist eine Skala? Was sind Hierarchien von Modellen nach Skala und Fragestellung? Wir diskutieren Beispiele von der Quantenmechanik über die klassische Mechanik bis zur Relativitätstheorie und wieder zurück.
Wie verhält es sich im Übergang von einem Modell einer Skala oder Anwendungsbereich zu einem Modell einer andere Skala? Wo liegen die Grenzen und wie sieht es in den Übergangsbereichen aus? Wie weit kann Extrapolation gehen? Wenn ich Modelle außerhalb des Gültigkeitsbereiches »befrage«, bekomme ich Antworten, aber was ist von diesen zu halten?
Gilt die heute häufig formulierte Annahme: je mehr Daten desto besser (für die Entscheidungsfindung)? Die richtige Information und Abstraktion zur richtigen Zeit ist essentiell!
Wir sprechen weiters über mathematische Symmetrien, »Schönheit« und Qualität von Modellen, datengetriebenem (machine learning) vs. Modell-Zugang. Sind wir am Ende der Theorie angelangt, wie vor einiger Zeit behauptet wurde, oder war das ein Irrtum?
Wie repräsentativ sind die Daten mit denen modelliert wird im Bezug auf die Daten, die in der Realität zu erwarten sind? Ändert sich das über die Zeit der Modell-Nutzung?
Wir kehren dann wieder an den Anfang zurück und diskutieren ein fundamentales historisches Beispiel, das n-Körper-Problem, beziehungsweise eine vereinfachte Form davon, das Dreikörperproblem, das ja einfach physikalisch zu lösen sein sollte. Oder doch nicht? Warum nicht? Was sind die Erkenntnisse und Folgen dieses historischen Problems, getrieben von König Oskar II und Henri Poincaré?
Es kann doch nicht so schwer sein, die Bahnen von Sonne, Erde und Mond zu berechnen!
Aus diesem Beispiel folgend: Was sind (nicht-lineare) chaotische Systeme und was bedeutet das für Modellierung und Vorhersage, vor allem in Bezug auf die Anfangsbedingungen und die Möglichkeit diese genau zu bestimmen? Wie hängt dies mit den intrinsischen Zeitskalen des Systems zusammen? Liegen hier natürliche Grenzen der Vorhersagbarkeit, die wir auch mit stetig besseren Sensoren, Computern und Algorithmen nicht brechen können?
Was sind Attraktoren komplexer dynamischer Systeme und Tipping Points (auch Kipppunkte,Phasenübergänge oder Regime Shifts genannt)? Kann man vorhersagen, wann sich ein System einem Kipppunkt nähert?
Dann diskutieren wir die Konsequenzen für Risikomanagement, den Unterschied zwischen statistisch gut beschreibbaren und bekannten Systemen, versus komplexen chaotischen Systemen und dem Vorsorgeprinzip. Was können wir daraus für politische und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse mitnehmen?
Passend zur vorigen Episode disuktieren wir auch das Risiko des »Overselling« wissenschaftlicher Erkenntisse und vor allem von Modell-Ergebnissen als Wissenschafter.
Zum Schluss stellen wir die Frage, wie weit wir als Gesellschaft kritischen Diskurs verlernt haben.
»Alle Experten sagen...« ist keine relevante Aussage, sondern ein rhetorischer Trick um Diskurs zu beenden.
Unterschiedliche Meinungen sind gerade bei komplexen (wicked) Problems von größter Bedeutung. Es gibt keine zentrale Anlaufstelle der Wahrheit, auch wenn das von manchen politischen Akteuren gerne so dargestellt wird. Was Information und Misinformation ist, stellt sich in der täglichen Praxis als sehr schwieriges Problem heraus. Auch die aktuelle Rolle der »alten« Medien ist stark zu hinterfragen.
Referenzen
Andere Episoden
-
Episode 79: Escape from Model Land, a Conversation with Dr. Erica Thompson
- Episode 67: Wissenschaft, Hype und Realität — ein Gespräch mit Stephan Schleim
- Episode 55: Strukturen der Welt
- Episode 53: Data Science und Machine Learning, Hype und Realität
- Episode 47: Große Worte
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 27: Wicked Problems
- Episode 25: Entscheiden unter Unsicherheit
- Episode 10: Komplizierte Komplexität
Andreas Windisch
- Andreas Windisch auf LinkedIn
- Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik, Fortschritt oder Stagnation
Fachliche Referenzen
Saturday Dec 31, 2022
067 — Wissenschaft, Hype und Realität — ein Gespräch mit Stephan Schleim
Saturday Dec 31, 2022
Saturday Dec 31, 2022
In dieser Episode führe ich ein äußerst interessates Gespräch mich mit Prof. Stephan Schleim. Er ist deutscher Philosoph und Psychologe, Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie Universität Groningen. Seine Spezialgebiete sind die Theorie und praktische Anwendungen der Psychologie und Neurowissenschaften. In seiner Forschung zur Wissenschaftskommunikation untersucht er, wie Darstellungen der Hirnforschung akademische und gesellschaftliche Debatten beeinflussen (z. B. in der Neuroethik oder dem Neurorecht).
Seit 15 Jahren ist er mit seinem Blog Menschen-Bilder bei den SciLogs vertreten, dem Portal für Wissenschaftsblogs des Spektrum-Verlags. Außerdem ist er Autor mehrerer Bücher.
Ich beschäftige mich ja schon länger mit der Frage, ob unser Wissenschaftsbetrieb nicht an einigen Stellen falsch abgebogen ist und was wir tun könnten, ja müssten um diese Situation zu verbessern. Warum ist es für uns wir als Gesellschaft wichtig, diese Problemlage zu verstehen? Denn wesentliche politische Entscheidungen hängen ja von wissenschaftlichen und technischen Aussagen und Möglichkeiten ab.
Wir beginnen unser Gespräch mit der Frage, ob sich die Erwartungen, die in der aus der Gesellschaft aber meist auch aus der Wissenschaft heraus an die Wissenschaft formuliert werden erfüllen? Schreitet Wissenschaft immer schneller voran? Führt dies stetig zu neuen und bahnbrechenden technischen Fortschritten?
Zahlreiche Untersuchungen legen eher das Gegenteil nahe. Wie sieht es nun mit Fortschritt und Qualität wissenschaftlicher Erkenntnis aus? Welche Anreizsysteme herrschen aktuell vor, nach welchen Indikatoren werden Wissenschafter gemessen, welche Definitionen von Produktivität gibt es in der Wissenschaft und was bedeutet dies für Erkenntnis und Innovation?
»Lässt man Kants akademischen Werdegang kurz Revue passieren, muss man zu dem Befund kommen, dass ein Denker wie Kant im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb keine Chance gehabt hätte. Im Gegenteil: Er verkörpert geradezu alles das, was dem Eifer der Universitätsreformer ein Dorn im Auge ist.«, Konrad Paul Liessmann
Es gibt nur noch selten in der modernen Wissenschaft solche positiven Beispiele, etwa den 3D-Atlas des Gehirns, wo das Ergebnis jahrzehntelanger, qualitativ hochwertiger Grundlagenforschung dargestellt werden.
»Die Wissenschaft befindet sich großteils in einem hermeneutisch abgeriegelten, selbstreferentiellen System.«
Was sind Beispiele für die Probleme, die wir beschreiben? Die 90er Jahre waren in den USA die Dekade des Gehirns. Auch Europa hat mit dem Human Brain Project nachgezogen — unter anderem mit dem Ziel, ein Gehirn im Computer zu simulieren. Was ist das Ergebnis dieser Dekade? Wir diskutieren Erwartungen und Versprechungen vom Gedankenlesen bis zum Lügendetektor; was waren die Folgen für die Diskussion des »freien Willen«, für Recht und Medizin?
In den letzten Jahrzehnten waren auch die »bunten Bilder« des Gehirns, die aus statistischen Auswertungen von Kernspintomographen entstehen, ein Hit in wissenschaftlichen Artikeln aber auch in populärwissenschaftlichen Berichten. Man konnte fast sagen: keine Psychologie ohne »Hirnbilder«!
Sind die Ergebnisse, die man mit der Kernspintomographie erhalten hat aber überhaupt vertrauenswürdig und korrekt? Beziehungsweise unter welchen Versuchsbedingungen kann man mit seriösen Ergebnissen rechnen und wurden diese in der Regel erziehlt? Also bleibt letztlich die Frage: können diese Hirnscanner, die richtig viel Geld kosten, überhaupt das Kriterium der Reproduzierbarkeit — als Mindeststandard wissenschaftlicher Qualität — erfüllen? War der Hype gerechtfertigt?
»Es gibt einige gute Studien, aber in der großen Masse sind viele dieser Studien, glaube ich, nicht vertrauenswürdig. […] Diesen Schluss muss man ziehen.«
Aber auch in zahlreichen anderen Bereichen der Psychologie und Psychiatrie erleben wir im Rückblick durchwachsene Ergebnisse, so etwa bei den wenig beeindruckenden Erfolgen der Antidepressiva in der Psychiatrie.
Ich spreche dann auch andere Hype-Themen der Vergangenheit an, und frage, warum wir aus diesen relativen Fehlschlägen so wenig lernen, z.B. Richard Nixon und den Krieg gegen den Krebs, Erik Topol und seine Kritik des Human Genome Projects sowie die mangelhafte Leistung von KI-Systemen in der Covid-Behandlung.
Wir diskutieren dann die Konsequenzen dieser Hypes, denn diese sind nicht einfach nur kurzfristige Irrtümer, sondern in ihnen stecken zum Teil enorme Opportunitätskosten und Kollateralschäden.
Wenn wir über die aktuelle Situation hinausschauen: »Wissenschaft die auch taugt« — was könnten wir die Standards sein? Prof. Schleim bezieht sich auf einen Artikel von Thomas Kuhn: Hartnäckigkeit und Dogmatismus ist manchmal auch ein wesentliches Mittel zum Erfolg in der Wissenschaft.
Die Behandlung von Aids kann als als Erfolgs-Beispiel gelten, auch die Entdeckung der PCR durch Kary Mullis, die psychiatrische Forschung mit Verengung auf Neuro-Wissenschaft allerdings als negatives. Überhaupt ist Kary Mullis ein gutes Beispiel für einen ultra-harnäckigen Wissenschafter gewesen, der in einem engen Bereich hohe Leistung gebracht hat, darüber hinaus aber eher für fragwürdige Ideen bekannt wurde.
Nun stellt sich aber die Frage: was für das Individuum des Wissenschafters gilt, gilt das auch für die Wissenschaft als Ganzes?
Und wo hört die Hartnäckigkeit auf und wird zum (sanften) Betrug? Fake it till you make it — ein wissenschaftliches Erfolgsmodell? Welchen Effekt haben New Public Management, Messen, Optimieren in der Wissenschaft(sverwaltung), Zitationsfaktoren, Impact-Faktor, usw?
»There is no cost to getting things wrong. The cost is not to getting them published.«, Prof. Brian Nosek
Wir erleben aktuell in vielen Bereichen einen Hyperwettbewerb und Bewertung von Forschung — wenn man in kurzen Zeiträumen »Durchbrüche« darstellen muss, um überhaupt überleben zu können — was wird das für Konseqzenzen für Richtung und Qualität und Vermarktung der Forschung haben?
Die Probleme, über die wir sprechen, sind bei weitem keine, die nur in den Interna der Wissenschaft Folgen haben, sondern breiten sich über Wissenschaftskommunikation und Expertenwesen in Gesellschaft und Politik aus? Hier ist auch der Aspekt zu sehen, dass die Verantwortung für diese Hypes auch an den Konsumenten liegt — eine Folge der Konkurrenz um Aufmerksamkeit.
Was ist überhaupt von Wissenschafts-News zu halten? Denn die Taktung wird immer höher — ist das sinnvoll oder sogar schädlich? Wissenschaft ist selten eindeutig, vor allem nicht in komplexen Fragestellungen. Führt das nicht eher zu Verwirrung statt Information bei der Bevölkerung?
Kann mehr Transparenz in den wissenschaftlichen Prozess die Situation verbessern? Können wir vom Rechtswesen lernen — was sind Folgen für wissenschaftliche Freiheit, politische Freiheit und Demokratie? Was können wir aus den Erfahrungen erfolgreicher Wissenschafter lernen?
Ohne die Freiheit, "Sachen zu machen die nicht Mainstream waren", sei seine Forschungsarbeit nicht möglich gewesen, Anton Zeilinger
Max Perutz, der österr. Wissenschafter, der von den Nazis nach England fliehen musste, hatte in seinem Labor neun Nobelpreisträger! Auf die Frage, wie man so erfolgreich wird antwortet er:
»Keine Politik, keine Gremien, keine Berichte, keine Gutachter, keine Interviews, nur begabte, hoch-motivierte junge Menschen, ausgewählt von wenigen Männern mit gutem Blick.«
Und was machen wir im heutigen Wissenschaftsbetrieb?
Einer der Ursachen für die Probleme im aktuellen Wissenschaftsbetrieb ist das Publikations(un)wesen: welche Rolle spielen kommerzielle Verlage, Open Access, Preprint, sind Daten und Prozesse transparent?
Welche Rolle spielt der Antrags-Irrsinn und die damit verbundene Bürokratie? Die bekannte amerikanische Tiefsee-Forscherin Edith Widder bringt den Konflikt zwischen innovativer Forschung und Finanzierung auf den Punkt:
»Die Sache ist die: In der Wissenschaft muss man den Förderstellen erklären, was man entdecken wird, bevor sie einem Geld geben. Und ich wusste nicht was ich entdecken werde. Somit bekam ich keine Unterstützung.«
Wo und in welchem Umfang macht Antragswesen Sinn, in welcher Form, und wo ist es ein Hindernis für gute Wissenschaft und verhindert vor allem auch, dass gute Wissenschafter Karrieren machen. Welcher innovative und kreative Wissenschafter ist Willens 30-40% seines Alltags mit stumpfer Bürokratie und Antragschreiben zu verbringen? Welche Folgen hat dies daher für die Selektion an Universitäten?
Eric Weinstein nennt dies passend: »snap-to-grid intellectualism«
Führen diese Prozesse zu kontroproduktiven Anpassungsprozessen an Indikatoren, Bürokratie, Regeln usw. Lenken wir also die verbleibende Intelligenz der Forscher weg von der Forschung hin zum Übergehen und Ausnutzen von Regeln und Bürokratie?
Einfache Versprechungen und Aussagen treffen in der Realität sehr schnell an ihre Grenzen und so ist es auch nicht einfach Schritte aus der Krise zu finden. Ein erster Ansatzpunkt findet sich etwa in der Magna Charta Univesitatum.
Referenzen
Andere Podcast
- Episode 53 und Episode 54: Data Science und Machine Learning, Hype und Realität
- Episode 47: Große Worte
- Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
- Episode 39: Follow the Science?
- Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 19 und Episode 20: Offene Systeme
- Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik, Fortschritt oder Stagnation
Stephan Schleim
- Homepage von Stephan Schleim
- Stephan Schleim auf Twitter
- Menschen-Bilder Blog
- Stephan Schleim an der Universität Groningen
- Universität Groningen
- Die Neurogesellschaft: Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert, Heise (2010)
- Psyche & psychische Gesundheit: Philosophen, Psychologen und Psychiater im Gespräch, Heise (2020)
- Wissenschaft und Willensfreiheit: Was Max Planck und andere Forschende herausfanden, Springer (2023)
- Stephan Schleim, Sind Hirnscans nur Kaffeesatzleserei?
Fachliche Referenzen
- Nicholas Bloom, Are Ideas Getting Harder to Find? (2020)
- How should medical science change, Lancet (2014)
- Economist: How Science goes wrong
- Trouble at the lab | The Economist
- Rettet die Wissenschaft,Die Zeit (2014)
- Konrad Paul Liessmann, Kant — Dienst ohne Vorschrift, Der Standard (2004)
- Eric Topol, Human genomics vs Clinical genomics — Expectation vs. Facts
- Thomas Kuhn, The Function of Dogma in Scientific Research, 1963
- John P. A. Ioannidis, Why Most Published Research Findings Are False (2005)
- Warum KI-Werkzeuge gegen COVID-19 bislang versagt haben, Heise (2021)
- Physik Nobelpreis für österr. Quantenphysiker Anton Zeilinger (2022)
- Zitat Max Perutz aus Geoffrey West, Scale: The Universal Laws of Life and Death in Organisms, Cities and Companies, W&N (2018)
- Edith Widder, Glowing life in an underwater world, TED-Talk
- Magna Charta Univesitatum
Friday Dec 16, 2022
066 — Selbstverbesserung — ein Gespräch mit Prof. Anna Schaffner
Friday Dec 16, 2022
Friday Dec 16, 2022
Das Thema Selbst-Verbesserung mag auf den ersten Blick wie eines wirken, das keinen großen gesellschaftlichen Bezug hat. Selbst-Vebesserung beziehungsweise Selbst-Optimierung hat teilweise auch einen schlechten Ruf, wenn man an die Bücherregale gefüllt mit fragwürdigen Ratgebern denkt, die so in den meisten Buchhandlungen zu finden sind, ganz zu schweigen von Coaching-Podcasts und YouTube-Videos.
Das Thema hat mich dann aber doch für eine Episode sehr angesprochen, nachdem ich das hervorragende Buch von Prof. Anna Schaffner gelesen. Anna Katharina Schaffner ist Professorin an der Univ. Kent und Executive und Personal Coach. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, unter anderem Exhaustion: A History und The Art of Self-Improvement: Ten Timeless Truths und hat neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch Artikel für Guardian, Psychology today und times Literary Supplement verfasst.
In diesem Gespräch beziehe wir uns im wesentlichen auf ihr letztes Buch zum Thema Selbst-Verbesserung. Prof. Schaffner arbeitet nicht nur den historischen Kontext der »Selbst-Verbesserungs-Ideen« auf, die Rolle, die sie für uns als Individuen hat, sie stellt diese auch in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext und öffnet damit auch den wichtigen Diskurs, wie wir uns als Gesellschaft auf die Zukunft vorbereiten können. Eine solche Vorbereitung hat eine persönliche, aber eben auch eine soziale Komponente.
Dabei verwendet sie den Begriff Self-Improvement, im Deutschen: »Selbstverbesserung« und nicht Selbst-Optimierung, wie sie im Podcast erklärt.
»Esse est percipi«, George Berkely
Zunächst stelle ich die Frage nach der Freiheit, die ja eine Grundlage für Selbstverbesserung zu sein scheint. Woher kommt unser Begriff der Freiheit? Hat Freiheit ein rein positives Moment oder ist sie gar eine Belastung (für viele Menschen)? Erkennen wir Selbstverwirklichung als Möglichkeit oder gar als Zwang? Alain Ehrenberg spricht von der
»Müdigkeit des Selbst, das sich permanent selbstverwirklichen muss«
Erleben wir also Freiheit zwischen Selbstverwirklichung und Selbstversagen? Außerdem: wie frei sind wir wirklich? Sind wir eine »Blank Slate«, eine leere Tafel, die nur beschrieben werden muss und beliebig beschrieben werden kann, oder ist alles determiniert, also vorherbestimmt? Welche rolle spielen einschränkende Strukturen der Gesellschaft?
Sehen wir im Extremen vielleicht sogar »Victim-blaming«, also ein Herunterblicken auf Opfer der Freiheit, auf Menschen, denen es nicht gelungen ist, sich selbst zu verwirklichen, ihre Freiheit »zu nutzen«? Die Wurzeln dieses Problems scheinen aber älter zu sein, wie wir am Beispiel des Calvinismus diskutieren:
»Calvinismus — weltlicher Erfolg als Zeichen, dass man zu den Auserwählten gehört.«
Pervertiert eine implizite Forderung zur Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung gar die Freiheit, die wir gerade erst gewonnen haben?
»Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein. Episode heißt Zwischenstück. Das Gefühl der Freiheit stellt sich im Übergang von einer Lebensform zur anderen ein, bis sich diese selbst als Zwangsform erweist. […] «
»Wir leben in einer besonderen historische Phase, in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann hat dagegen keine.«, Byung-Chul Han
Prof. Schaffner zitiert in diesem Zusammenhang Franz Kafka:
»Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst um Herr zu werden und weiß nicht, dass das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn«
Welche (externen) Wertesysteme haben wir also unbewusst internalisiert? Sind diese gesund für uns? Wie können wir und selbst verbessern ohne uns gleichzeitig unserer Freiheit zu berauben, zumal in unserer Gesellschaft Bedeutung, Status und Identität oftmals mit einer eher oberflächlichen Ideen des Erfolgs verwoben sind?
Was ist von der Ratgeber-, der Self-Help-Industrie zu halten? Was ist der Unterschied zwischem »Mac Self-Help« und philosophisch fundierteren Ideen? Hat die zeitgenössische Philosophie hier eine wesentliche Wurzel — die Beschäftigung mit dem »guten Leben« vergessen?
»Der Mensch wird am Du zum Ich«, Martin Buber
Dann tauchen wir noch einmal tiefer in die Vergangenheit und Grundlagen ein und stellen die Frage nach dem Selbst. Was ist eigentlich »das Selbst«? Und was zählt als Verbesserung? Wie sind diese Ideen historisch einzuordnen? Prof. Schaffner erklärt dabei drei verschiedene Entwürfe des Selbst:
- relationales Selbst
- kein Selbst (in der buddhistischen Interpretation)
- atomares, individualistisches Selbst und homo oeconomicus
Sollten wir im Westen eine Rückkehr von starken individualistischen Ideen hin zu einem relationaleren Selbst suchen, gar »planetare Wesen« werden? Warum ist diese Frage für die Herausforderungen der Zukunft von großer Bedeutung?
Wie spielt das Dilemma zwischen Bildung und Ausbildung — im Sinne des Humboldtsches Ideals hier hinein? Und welche Rolle spielt das Systemdenken, beziehungsweise der Generalismus? Pointiert formuliert: erleben wir gerade in der Krise ein Abwendung vom »Fachidiotentum«?
Was ist die Rolle von Kultur und Ritualen, Zeremonien? Altmodisch und irrelevant, oder wesentliche Anker auch für moderne und zukünftige Gesellschaften?
Was ist vom heute sehr modischen Begriff der Authentizität zu halten?
»Authentisch ist der Mensch offensichtlich nur dann, wenn er sein Inneres, seine vermeintlich unverfälschte Natur, ungefiltert nach außen stülpt. Und das bedeutet letztlich: Authentizität ist das Gegenteil von Kultur. […] Anthropologisch ist das zwar Irrsinn, denn der Mensch ist bereits seiner Natur nach ein Kulturwesen, doch lässt dies der Authentizitätsdiskurs weitgehend außer Acht, der voraussetzt, dass sich unser unverfälschtes Ich in uns selbst findet und sich nicht in unserem Zusammenspiel mit Kultur und Gesellschaft entwickelt.«, Thomas Bauer
Wie spielt der heutige Begriff der Authentizität mit der Romantik als Geburt des Individualismus zusammen? Wo ist die Grenze zwischen Authentizität und performativem »Oversharing«, oder gar bis zum »vulnerability porn«?
Was bedeuten die Überlegungen zu Selbstverbesserung und Coaching für die heutige Arbeitswelt? Nur was messbar — quantifizierbar ist — ist etwas wert?
Und zuletzt, was bedeuten diese Überlegungen nun für die Zukunft der Gesellschaft und nicht nur des individuums? Verbreiten sich Tugenden (nach Konfuzius) wie gutartige Viren? Ist intellektuelle Bescheidenheit — vielleicht gar Weisheit — noch eine zeitgemäße Tugend?
»Wir dürfen nie vorgeben zu wissen, und dürfen nie große Worte gebrauchen«, Karl Popper
Der Mensch ist, nach Arnold Gehlen ein Mängelwesen, und Rupert Riedl macht schon in den 1970er Jahren deutlich:
»Der menschliche Verstand ist nicht dazu geschaffen, komplexe Systeme zu verstehen«
Aber wie weit geht; soll die Verbesserung die technische Erweiterung des Menschen gehen? Ist sie nicht notwendig um mit der wachsenden Komplexität unserer techno-sozialen Systeme umgehen zu können? Wo ist die Grenze? Sind die Ideen des Transhumanismus nicht letztlich die logische Konsequenz (und das natürliche Ende) der Selbst-Verbesserung? Gibt es eine (vernünftige) Grenze der technischen Verbesserung menschlicher (kognitiver) Fähigkeiten?
»The faith in Utopia, which killed so many in the centuries following the French Revolution, is dead.«, John Gray
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 17: Kooperation
- Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 47: Große Worte
- Episode 49: Wo denke ich? Reflexionen über den »undichten« Geist
- Episode 50: Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr
Anna Schaffner
- Executive and Personal Coaching | Exhaustion and Burnout Coaching
- Exhaustion: A History, Columbia University Press (2017)
- The Art of Self-Improvement: Ten Timeless Truths, Yale University Press (2021)
- The Truth about Julia, Atlantic Books (2016)
- Artikel in Psychology Today
Fachliche Referenzen
- George Berkeley
- Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Campus (2015)
- Byung-Chul Han, Psychopolitik, Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S. Fischer (2014)
- Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Reclam (2018)
- Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt (1987)
- Arnold Gehlen, Der Mensch, Klostermann Vittorio (2016)
- Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1982)
- John Gray, Black Mass, Penguin (2008)
Monday Nov 28, 2022
Monday Nov 07, 2022
064 — Getting Nothing Done — Teil 1
Monday Nov 07, 2022
Monday Nov 07, 2022
Titel der heutigen Episode ist »Getting Nothing Done« — warum die höchst-technisierte Gesellschaft der Menschheit (jedenfalls in den Industrienationen) bei wesentlichen Infrastrukturprojekten kaum mehr etwas auf die Reihe bekommt. In dieser Episode möchte ich eine Diskussion über ein sehr wichtiges Thema anstossen, über das ich in der letzten Zeit intensiv nachdenke.
Teilen Sie meine Ansichten, oder nicht? Hat diese Episode Sie zum Nachdenken angeregt? Schreiben Sie mir!
Es gibt auch eine englischsprachigen Artikel (mit Illustrationen) von mir zu diesem Thema in den Referenzen.
Beschäftigt man sich ein wenig mit der Vergangenheit, ist es geradezu atemberaubend, welche — zur damaligen Zeit noch neue — Infrastrukturen wir in kurzer Zeit umsetzen konnten — vom Panamakanal über die Wiener Hochquellwasserleitung bis zum Messmer Plan in Frankreich.
In den letzten Jahren erleben wir allerdings, so mein Argument, geradezu eine bleierne Stagnation, und dies nicht bei »innovativen« Projekten, sondern bei Projekten, die wir hunderte oder tausende Male in der Vergangenheit gebaut haben: Konzerthallen, Brücken, Eisenbahnstrecken, Flughäfen, Kernkraftwerke, Tunnel.
»I contrast the now common belief in an ever-faster pace of innovation with the many unmistakable signs of technical stagnation and slowing advances: there are limits to everything, and invention and innovation cannot be exceptions.«, Vaclav Smil
Dieses Problem beschränkt sich nicht auf die »physische« Welt, sondern findet sich in ähnlicher Weise in der virtuellen Welt der Software. Dazu kommt, dass Software/IKT und physische Infrastruktur in immer stärkerer Weise miteinander verbunden sind, was die Problemlage verschärft.
»Die niedrig hängenden Früchte sind größtenteils gepflückt worden, zumindest im Moment. [...] Die Große Stagnation hält an und verschlimmert sich sogar noch, angetrieben von einer zunehmend dysfunktionalen Politik.«, Tyler Cowan
Im ersten Teil versuche ich die Problemlage und Kontext darzustellen und im zweiten Teil Ursachen zu untersuchen, die in fünf Gruppen fallen:
- Enttäuschung über die Digitalisierung und allgemeine Stagnation in Forschung und Technologie
- Regulierung, Bürokratie und Fokusverlust
- Furchtgetriebenes Management und Verrechtlichung der Gesellschaft
- Fokus
- Spezifischer Verlust der Fähigkeit, große Projekte zu realisieren
Zuletzt gebe ich mögliche Pfade an, wie die Situation (in Europa) verbessert werden könnte. Der wesentlichste Aspekt scheint mir aber zu sein, diese Problematik breiter zu diskutieren und zur Kenntnis zu nehmen, und sich nicht in Hype- und Innovations-Marketing-Gerede zu verlieren.
»Der Forschungsaufwand steigt erheblich, während die Forschungsproduktivität stark abnimmt. [...] es dauert etwa 13 Jahre, bis die Forschungsproduktivität um die Hälfte sinkt. Oder anders ausgedrückt: Die Wirtschaft muss ihre Forschungsanstrengungen alle 13 Jahre verdoppeln, nur um die gleiche Gesamtwachstumsrate aufrechtzuerhalten.«, Nicholas Bloom
Der Fokus reicht dabei von erheblichen Qualitätsproblemen in der Wissenschaft bis zu Regulierung und Management-Prinzipien.
Referenzen
Andere Episoden
- Englischer Artikel im (an)sichten Blog
- Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik, Fortschritt oder Stagnation
- Episode 23: Frozen Accidents
- Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 31: Software in der modernen Gesellschaft – Gespräch mit Tom Konrad
- Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann
- Episode 40: Software Nachhaltigkeit, ein Gespräch mit Philipp Reisinger
- Episode 47: Große Worte
- Episode 59 und 60: Wissenschaft und Umwelt
Fachliche Referenzen
- Lee Vinsel, The Innovation Delusion, Currency (2020)
- Years of Delays, Billions in Overruns: The Dismal History of Big Infrastructure, New York Times (2021)
- »Software Crisis«: Software Engineering, Report on a conference sponsored by the NATO Science Committee, Garmisch, Germany, 7th to 11th October 1968
- »Facebook [ist] als datenverarbeitender Apparat so komplex, dass er sich dem Verständnis von innen heraus entzieht« (2022)
- Massive Datenpanne bei Uber: »Sie haben so vollen Zugriff auf Uber« (2022)
- »Ransomware legt US-Pipeline lahm« (2021)
- Syniverse verarbeitet jährlich Milliarden von Textnachrichten, und Hacker hatten jahrelang unbefugten Zugriff auf das System." (2021)
- »Ein Computerhacker hat sich Zugang zum Wassersystem einer Stadt in Florida verschafft und versucht, eine "gefährliche" Menge einer Chemikalie hineinzupumpen, sagen Beamte. [...] Aber ein Arbeiter entdeckte es zufällig und machte die Aktion rückgängig.« (2021)
- Lidl Cancels SAP-introduction after having sunk 500 Million into it
- Robert Gordon, Is US economic growth over? Faltering innovation confronts the six headwinds, Working Paper 18315 (2012)
- Tyler Cowan, The Great Stagnation, Dutton (2011)
- Eric Weinstein and Peter Thiel, The Portal #001 (2019)
- David Graeber im Gespräch mit Peter Thiel "Where did the Future go?" (2020)
- Brian Potter, When did New York start building slowly? (2023)
- Nassim Taleb, Skin in the Game, Penguin (2018)
- Nassim Taleb, What do I mean by Skin in the Game? My Own Version, Medium (2018)
- Gerd Gigerenzer, Risiko, Bertelsmann (2013)
- Marc Andreessen im Gespräch mit Sam Harris, Making Sense #290 (2022)
- David Graeber, The Utopia of Rules, Melville House (2016)
- David Graeber, Bullshit Jobs, Penguin (2019)
- Lukas Feiler erklärt in einer Podiumsdiskussion im Gespräch mit mir
- Vaclav Smil, Invention and Innovation: A Brief History of Hype and Failure, MIT Press (2023)
Sunday Oct 16, 2022
063 – Museum der Zukünfte — ein Gespräch mit Dr. Gabriele Zipf
Sunday Oct 16, 2022
Sunday Oct 16, 2022
In Berlin gibt es ein Museum, ein Haus der Zukunft, das Futurium. Ich halte es für eine hervorragende Idee einen Raum zu schaffen, in dem über die Zukunft (beziehungsweise Zukünfte) diskutiert wird, vor allem auch darum, weil sich dieses Museum auch stark an Kinder, beziehungsweise junge Menschen wendet.
Es hat mich folglich sehr gefreut, dass die Leiterin der Ausstellung, Frau Fr. Dr. Zipf sich zu einem Gespräch bereiterklärt und mich ins Futurium eingeladen hat.
Im Gespräch stelle ich die Frage, warum Zukunft im Plural, also Zukünfte verwendet wird: Ziel ist das Aufzeigen von Möglichkeiten. Aber wie weit ist Zukunft gestaltbar, von wem, welche Rolle spielt das Individuum? Wie kann der Versuch, Zukunft vorstellbar machen funktionieren?
Dr. Zipf ist Archäologin und da stellt sich naturgemäß die Frage: wie passt die Archäologie zur Beschäftigung mit der »Zukunft«? Gibt es eine Herangehensweise an »Zeit«? Kann man möglicherweise Prinzipien aus der Geschichte ableiten?
»Die Geschichte wiederholt sich nicht«
Und dennoch ist, wie sich im Gespräch zeigt, die Beschäftigung mit der Vergangenheit von Wert, wenn man in die Zukunft blicken möchte. So diskutieren wir die Notwendigkeit eines inter- und intradisziplinären, also eines multiperspektivischen Blicks. Was ist die Rolle von Generalisten versus Spezialistentum, der Philosophie?
Das Futurium selbst besteht aus vier verschiedene Ebenen:
- Ausstellung
- Lab
- Veranstaltungen
- Digitales Futurium
Kann ein Haus, beziehungsweise ein Projekt wie das Futurium eine vermittelnde, eine Generalisten-Rolle einnehmen? Wie versucht das Futurium die »futures literacy« zu verbessern — also pädagogische Ansätze zu entwickeln um auch junge Menschen eine kritische aber konstruktive Perspektive der Zukunft anschaulich zu machen?
Was ist von Zukunftsforschung zu halten (jenseits von Individuen die sich breit inszenieren, deren Vorhersagen aber selten zutreffen?)? Was sagen die Bilder, die wir uns von der Zukunft machen über uns aus?
Dann diskutieren wir die sehr prinzipelle Frage, was ist eigentlich eine gute Zukunft? Das führt uns das zur Frage des Fortschrittes:
»Wir verwechseln systematisch Fortschritt mit Innovation.«, Harald Welzer
Apropos Innovation: Erleben wir wirklich eine solche Beschleunigung, wie das gängige Narrativ suggeriert, oder eher eine Stagnation? Was wir heute als Zukunft diskutieren, haben wir schon vor 30 Jahren diskutiert — vielleicht sogar noch früher.
»Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.«, Johann Nestroy
Helfen Dystopien, die Menschen zu bewegen, oder ist das zwar ein narrativ einfacher, aber letzlich wenig hilfeicher Pfad? Wie kommen wir von den Dystopien und einfachen Klischees/Stereotypen hin zu einer konstruktiven und sinnvollen Diskussion der Zukunft?
Wie können wir mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft umgehen: wieweit hilft Innovation? Wie kommen wir zu einer gemeinsamen Sicht auf Fortschritt? Wollen wir radikalen Wandel (siehe etwa die Vorstellungen Le Corbusiers, wie Paris umzugestalten wäre), Transformation, evolutionäre Veränderung?
Gibt es Kipp-Punkte in der Technik und Gesellschaft, die dazu führen können, dass eine an sich bekannte Technik (endlich) den Durchbruch schafft (siehe auch das Beispiel der Elektro LKWs in London 1917)?
Die Geschichte lehrt und jedenfalls eines: dass das, was aktuelle Generationen für richtig halten, nicht immer den Test der Zeit besteht. Was können und sollen wir tun um einerseit in unserer Zeit zu handeln, andererseits aber Handlungsspielraum für zukünftige Generationen zu erhalten?
Referenzen
Andere Episoden
- Episode 15: Innovation oder Fortschritt?
- Episode 17: Kooperation
- Episode 23: Frozen Accidents
- Episode 28: Jochen Hörisch — Für eine (denk)anstössige Universität!
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
- Episode 45: Mit Reboot oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 50: Die Geburt der Gegenwart und die Entdeckung der Zukunft — ein Gespräch mit Prof. Achim Landwehr
- Episode 59, 60: Wissenschaft und Umwelt
Futurium
Fachliche Referenzen
- Toronto wants to kill the smart city forever, MIT Technology Review (2022)
- Frank Schirrmacher, Neil Armstrongs Epoche: Das Drama einer Enttäuschung, FAZ Feuilleton (2012)
- Lorries being refuelled at St Pancras goods depot, London, 11 July 1917
- Frozen Accidents: Stewart Brand, How Buildings Learn, Penguin Books (1995)
- Why Architect Le Corbusier Wanted To Demolish Downtown Paris, Business Insider (2013)
- David Graeber, Bürokratie, Die Utopie der Regeln, Goldmann (2017)
- Attila Hörbiger, Johann Nestroy, Lumpazivagabundus